NIGHTWISH sind ja schon lange nicht mehr einfach. Die Kompositionen der Band sind mittlerweile so komplex, dass es schon eine Zeit braucht, bis man sich hineingefunden hat. Das war spätestens bei „Imaginearum“ der Fall. Bei „Endless Forms Most Beautiful“ fiel es mir dagegen aufgrund der Thematik relativ leicht, mich in das Album einzuarbeiten. Zudem sind auf diesem Album einfach unglaublich viele Ohrwürmer enthalten, die trotz der hohen musikalischen Komplexität doch irgendwo eingängig sind. Das neueste Album der Finnen deutet ja schon durch den kryptischen Titel „Human. :||: Nature.“ an, dass das hier nicht so einfach werden wird. Es fällt auf den ersten Blick schon schwer zu erkennen, um was es auf dem Album überhaupt geht.
Wobei die erste Singleauskopplung namens „Noise“ dann doch deutliche Hinweise gegeben hat. Das Video konnte mich sofort überzeugen. Zeigt es doch, wie sehr der Mensch sich heute selbst von der Technik abhängig gemacht hat, wie soziale Medien und die ach so smarten Handys uns zu Sklaven der Technik gemacht haben, die sich nichts sehnlicher wünschen als eine romantische Rückkehr zur Natur – natürlich virtuell, denn man ist natürlich zu bequem, das eigene Heim zu verlassen und fürchten uns selbst vor kleinen Krabbeltieren. So huldigt man dem neuen König am Bildschirm – obwohl die Menschheit am Ende aller Tage ohne die Natur doch gar nichts ist. Das alles zeigen NIGHTWISH jedoch nicht mit einem erhobenen Zeigefinger, sondern mit einer gehörigen Portion Humor. Und da ich diese Auffassung teile, kommt das auch richtig sympathisch rüber. Das einzige, woran „Noise“ krankt, ist, dass der Song nun mal sehr komplex ist. Und obwohl er alle typischen Trademarks der Finnen zeigt, ist das Hauptproblem, dass er eben zu komplex und etwas zu verzettelt ist um wirklich hängenzubleiben.
Doch „Human. :||: Nature.“ beginnt ja mit einem ganz anderem Song. Nämlich mit dem, um was es eigentlich geht: „Music“. Der beginnt zunächst etwas obskur, Geräusche der Natur formen sich allmählich zu Melodien, daraus entsteht ein treibender Rhythmus, natürliche, ursprünglich anmutende tribalartige Folkmelodien entstehen und schließlich plätschern die Töne nur so dahin wie ein Bach, der langsam immer tiefer und breiter wird. Sanfter Gesang setzt ein und alles wird langsam immer größer, bombastischer, orchestraler, bis dann schließlich auch der Metal Einzug in den Song hält und er sich zu einer typischen NIGHTWISH-Nummer entwickelt. Und es dauert ein paar Durchläufe, bis man verstanden hat, was dieser Song ist: Nämlich eine Zusammenfassung der Entwicklung der Musik von Anbeginn der Menschheit bis heute. Von einfachen Instrumenten wie ausgehöhlten Knochen und gespannten Tierfellen über Orchestermusik bis hin zum Metal. Alleine – auch dieser Song ist wieder viel zu komplex um irgendwie als Hit durchzugehen auch wenn es ein musikalisches Meisterwerk ist.
Und ähnlich meisterhaft geht es weiter. Sei es jetzt „Shoemaker“, das nicht ganz so bombastisch, dafür aber umso sanfter ausgefallen ist oder auch „Harvest“, das mit seiner folkigen, rhythmischen Art oft an das Vorgängeralbum erinnert. Hier hat man Troy Donockley auch mal richtig viel Raum gewährt und er gibt dem Song mit seinem sanften Gesang eine ganz eigene Note. Ganz allmählich gewinnt das Stück an Härte und wandelt sich zu einem typischen NIGHTWISH-Song. „Pan“ ist dann wieder so ein verspielter Song, der genau das liefert, was sein Name verheißt, bevor auch er deutlich heftiger und bombastischer wird. Insgesamt ein wirklich schönes Stück, allerdings auch nicht besonders herausragend. Dafür fehlt ihm einfach das gewisse Extra.
Umso besser geht es mit „How’s The Heart?“ weiter. Passend zum Titel beginnt der Song mit einer kurzen Herztonsequenz und ist dann ein wirklich schöner, typischer NIGHTWISH-Song, in dem vor allem Floors Stimme im Mittelpunkt steht. Zart und verletzlich klingt sie und Troy setzt mit seinen Uileann Pipes schöne Akzente. Auch dieses Stück ist sehr folkig ausgefallen und kann mit schönen Melodielinien überzeugen. Und am Ende gibt es noch ein ganz zauberhaftes a-capella-Duett zwischen Floor und Troy.
Auch in „Procession“ klingt Floor sehr sanft und zerbrechlich und auch wenn das Stück in seinem Verlauf immer kräftiger und forscher wird, so bleibt es doch eher ruhig und verspielt, bis es sich schließlich zu einem flott rockenden Song entwickelt. Ganz andere Saiten zieht dann „Tribal“ auf. Es startet ruhig und leise, wirkt dabei jedoch irgendwie bedrohlich und kulminiert dann in Floors fiesen Screams, unterstützt von Marko Hietala. Hier zeigt sie die ganze Palette ihres Könnens. Das kurze Stück ist wohl das härteste des ganzen Albums, kann davon abgesehen jedoch leider keine Akzente setzen.
Das Album endet dann mit dem Titel „Endlessness“ – welch Ironie. Eine hypnotisierende Melodie führt langsam in den Song hinein und Marko hat zum ersten Mal einen größeren Gesangseinsatz auf dem Album. Ruhig und getragen gleitet der Song dahin und auch wenn er mir wirklich gut gefällt ist auch dies kein Song, der aus dem Album irgendwie herausragt. Und damit geht das Album dann auch schon zu Ende.
Eigentlich. Denn da gibt es noch den einen großen, letzten Song. „All The Works Which Adorn The World“, der nochmals in 8 Untertitel unterteilt ist, steht auf einer separaten CD. Und das ist auch durchaus berechtigt. Denn zum einen bietet das Stück in rund 30 Minuten ausschließlich Instrumentals, Gesang wird hier nur als zusätzliches Instrument eingesetzt. Zum anderen unterscheidet es sich stilistisch dann doch vom Rest des Albums, ist deutlich ruhiger. Da es sich im Grunde um einen einzelnen langen Song handelt, gibt es auch keine Übergänge zwischen den einzelnen „Untersongs“ und das ganze fließt einfach so dahin. Man kann tief eintauchen in die Soundwelten eines Tuomas Holopainen und sich von der Musik tragen lassen.
Das Stück kann man als musikalische Liebeserklärung an die Natur verstehen – und genau so klingt es auch. Immer wieder werden auch Tiergeräusche mit eingebunden und stellen so die Verbindung zwischen Mensch und Tier über die Musik dar. „All The Works Which Adorn The World“ zeigt aber auch, wie sehr Tuomas Holopainen sein Songwriting im Bereich Orchester verbessert hat. Auch die jahrelange Zusammenarbeit mit Pip Williams zahlt sich aus und es zeigt sich, wie gut die beiden harmonieren. Diesen letzten Song kann man im Grunde nicht mehr als Metal bezeichnen, es handelt sich eigentlich eher um eine klassisch angehauchte Komposition. Wunderschön, aber nichts, was man mal einfach nebenbei hören kann. Auf dieses Stück muss man sich voll und ganz einlassen, die Augen schließen und sich einfach wegträumen.
Am besten, während man auf einer grünen Wiese oder in einem kühlen Wald liegt und die Natur mit allen Sinnen in sich aufnehmen kann. Immer wieder muss ich hier auch an Bedřich Smetanas „Vltava“ denken. Weil auch Tuomas es geschafft hat, Details der Natur wie plätschernde Bäche, Wassertropfen, die von regennassen Zweigen fallen, Sonnenstrahlen, die durch das Laub der Bäume brechen, musikalisch darzustellen. „All The Works Which Adorn The World“ ist ein musikalisches Meisterwerk, das allerdings zu Recht vom Rest des Albums abgetrennt ist, denn hier kann man wirklich darüber streiten, ob das noch NIGHTWISH ist, oder ob man das nicht besser unter einem anderen Namen veröffentlich hätte. Doch wie auch immer. Dieser zusätzliche Song erfordert viel Ruhe und Geduld, entfaltet dann jedoch seine ganze Schönheit und ich würde ihn sogar als den besten Song des Albums bezeichnen.
Denn das Problem von „Human. :||: Nature.“ ist, dass es im Gegensatz zu „Endless Forms Most Beautiful“ keine herausragenden Songs auf dem Album gibt, keine Ohrwürmer. Zwar ist an der Qualität grundsätzlich nichts auszusetzen, es ist ein fantastisches Album. Aber es ist auch sehr schwer zugänglich, braucht unheimlich viele Hördurchgänge und nur wenige Songs bleiben auch tatsächlich im Ohr. Es gibt keine richtigen Refrains, die man gleich mitsingen möchte. Auch kommt für meinen Geschmack Marko am Gesang mal wieder viel zu kurz. Diese ganze Entwicklung zeichnet sich schon über die letzten Alben ab und ist grundsätzlich auch nachvollziehbar. Dennoch ist es einfach schade, dass es keinen Song gibt, von dem man sagt: Den möchte ich unbedingt live erleben. Überhaupt tritt der Gesang langsam immer mehr hinter das Orchester zurück, so dass einem als Hörer ein gewisses Element einfach fehlt. In gewisser Weise fühlt man sich etwas ausgeschlossen. Auch der Metal tritt immer weiter in den Hintergrund. Im Grunde ist das hier eher Orchestral Folk als Metal. Als Orchesterliebhaber finde ich das dabei gar nicht mal so schlimm. Und dennoch hat man das Gefühl, dass irgendwie etwas fehlt.
Und so tue ich mich mit diesem Album so schwer wie bisher noch mit keinem von der Band. Ja, es ist ein Album, das viel vom Hörer abverlangt, viel Zeit und Geduld. Aber das ist ein gutes Album wert. Aber gleichzeitig vermisse ich zum ersten Mal auf einem NIGHTWISH-Album auch etwas, ohne es genau benennen zu können. Vielleicht ist es die Eingängigkeit, die bisher trotz Orchester, trotz Bombast, trotz ausgefeilter Kompositionen immer noch vorhanden war und hier nun etwas abhanden gekommen ist. Vielleicht brauche ich aber auch einfach noch mehr Zeit als ich jetzt hatte, um noch tiefer in dieses Album einzutauchen und es auf mich wirken zu lassen. (Anne)
Anzahl der Songs: 17
Spielzeit: 81:31 min
Label: Nuclear Blast
Veröffentlichungstermin: 10.04.2020
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