Graham Nash, der große Hippie-Poet, ist gerade 80 Jahre jung geworden und Mitglied der Rock`N Roll Hall of Fame, sowohl mit den HOLLIES als auch mit CROSBY, STILLS & NASH. Am 6. Mai 2022 veröffentlicht er ein bemerkenswertes Live-Album, welches seine beiden ersten Soloalben in hervorragend arrangierter Klangqualität beinhaltet und von einer professionellen siebenköpfigen Band, unter anderen seinen langjährigen Weggefährten Shane Fontayne (Gitarre/Gesang) und Tod Caldwell (Keyboards/Gesang) auf der Bühne umgesetzt wird. Die Alben "Songs For Beginners" aus dem Jahr 1971 und "Wild Tales" von 1974 wurden auf einer Tournee in den USA im Jahr 2019 präsentiert und zeichnen dieses zeitlose Tondokument als besonders hörenswert aus.
Der ruhige Mann aus Manchester gelang zu Weltruhm mit den HOLLIES. Auf dem Zenit ihres musikalischen Schaffens 1968 verließ er dennoch die Band, um sich in Los Angeles mit dem exzentrischen David Crosby von den BYRDS und Stephen Stills von BUFFALO SPRINGFIELD zu einer der frühen Super-Groups zu formieren, in deren Folge sich noch der melancholisch introvertierte Neil Young anschloss. Zusammen avancierten sie zu einer der bedeutendsten Bands der Hippie-Ära.
CSN und CSNY wurden schnell Superstars mit ihrem herausragenden, magischen, sakral angemuteten Harmoniegesang im Genre zwischen Folkrock, Country und psychedelischem Rock. Schon Haupt-Songwriter bei den HOLLIES, steuerte Graham Nash bis heute unvergessene Songs wie "Marrakesh Express", "Teach Your Children" oder "Our House" der Band bei. "Our House" war dabei mit seiner leichten und glücklichen Melodie poetische Hippie-Philosophie in Reinkultur, die das Leben von Nash mit seiner extravaganten Freundin und Singer/Sonwriterin Joni Mitchel im Hippie Mekka Laurel Canyon beschrieb.
Graham Nash war bei CSNY/CSN eher für die eingängigen Melodien bekannt während David Crosby komplexer und psychedelischer geartet war, wohl auch dem extremen Drogenkonsum geschuldet (laut eigenen Angaben in seiner Biografie benötigte er 1000 Dollar pro Tag, um seinen Bedarf zu decken). Neil Young lieferte seinen wehleidigen und schwermütigen Beitrag und Stephen Stills, eigentlich Blues-affin, gelang wohl der beste Song mit "Carry On". Wer den Auftritt beim legendären Woodstock-Festival 1969 gesehen hat, kann sich ein Bild machen, welche Macht und Magie diese vier Supermusiker im Kollektiv darstellten. Aber auf dem Höhepunkt ihres Erfolges trennten sich die vier zu starken Alphatiere, die nicht dauerhaft teamfähig waren, nahmen Solowerke auf, und komponierten immer neue Musik, in gewisser Art und Weise dennoch in unterschiedlichsten Konstellationen der Reunion für immer verbunden bis zum heutigen Tag.
Graham Nash ist ein hoch emotionaler und politischer Ausnahmekünstler, als Fotograf ebenso anerkannt wie als Musiker und Songwriter. Schonungslos und ehrlich offenbart er sein Leben und seine Seele in seiner Musik. Er ist bis heute kein bequemer Poet, ein Skeptiker, Kritiker, ein Mann der den Frieden liebt und den Krieg und das Establishment verachtet. Seine Anti-Kriegssongs, die sich ursprünglich gegen den Vietnamkrieg richteten, sind leider heute aktueller sind als je zuvor und die Desillusionierung aller Hippieträume machen den Künstler auch heute noch betroffen. Er ist auch der Musiker, dessen Liebeslieder und Songs über Trennung eine unvergleichbare Intimität und Selbstreflexion widerspiegeln.
Auch im hohen Alter ist Graham Nash hervorragend bei Stimme Die beiden live eingespielten Alben beinhalten großartige und zeitlose "Roots-Rock"-Songs wie den Anti-Kriegssong "Military Madness", nicht minder bedeutsam wie Steven Stills „For What It`s Worth“, dass er für BUFFALO SPRINGFIELD schrieb. Nicht minder bedeutsam ist das sehr politische "Chicago", das von den politischen Unruhen handelt, die sich 1968 in dieser Stadt zutrugen und die gewaltsam niedergeschlagen wurden: „We Can Change The World“, so lautet der Refrain, ist ein Credo an dem der Protagonist allerdings auch heute noch festhält. Nach wie vor wirbt er unermüdlich, die Welt zu einem besseren und friedlicheren Ort zu machen.
Das vorliegende Livealbum ist fantastisch; viel Country/Americana mit wunderschönen Pedal-Steel-Guitar Begleitungen, tolle Harp-Einlagen, leicht psychedelische, klassische Rocksongs mit wabernder Hammond Orgel und spärlich instrumentierte Folk Rock-Songs, im Stil von SIMON AND GARFUNKEL in ihren besten Tagen. "Simple Man" kommt mit genialer Mundharmonika- und Klavierbegleitung, man spürt die tiefe Bedeutung des Trennungsschmerzes von Joni Mitchel (" Never Been So Much In Love"). Der Zuhörer erfährt emotionale Hörgenüsse bei "I Used To Be A King" oder "I Miss You", nur mit Klavieruntermalung, vom noch introvertierteren und düsteren "Wild Tales" Album. Wer sich auf Songs wie "Wounded Bird" oder "Sleep Song" einlässt, kann die verletzte Seele des Künstlers spüren, der seine Emotionen in unvergleichlicher Art sprechen lässt. Jedenfalls sind die Melodien einzigartig. Fantastisch ist auch das tief im Southern Rock verwurzelte "On The Line".
Und wo steht der achtzigjährige nun heute. Im Interview hat er vor einigen Jahren klare Stellung bezogen: "Ich jedenfalls bin immer noch ein Hippie. Ich glaube fest an das, was die Hippies verkörperten: Dass Liebe besser ist als Hass, Frieden besser als Krieg, dass wir auf uns selbst und auf einander aufpassen sollen. Ich beobachte ein besorgniserregendes Wachstum rechtsextremer Strömungen in vielen Ländern, auch in dem Land, in dem ich lebe: den USA mit seiner Trump-Regierung."
Das Album ist fantastisch. Es ist vielseitig, bedeutungsvoll und geprägt von klaren gefühlsbetonten Melodien, die nicht mehr aus dem Kopf gehen. Es ist kein Main-Stream-Album, nichts für oberflächliche Menschen, die in der schnelllebigen Welt vergessen haben abzuschalten und zuzuhören. Es ist auch keine Musik für diejenigen, denen ihre unbedeutende Rolle im Universum aufgrund ihrer Minderintelligenz unbewusst ist oder der Generation "Cancel Culture" angehören.
Alle anderen werden mit einem großen Stück Musikgeschichte belohnt; einem Ausflug in die Hippie-Kultur und ihrem Motto "Make Love Not War". (Bernd)
Bewertung:
9 / 10
Label: Proper Records
Anzahl der Songs: 21
Spielzeit: 76:14 min
Veröffentlichungstermin: 06.05.2022