Dirge - Vanishing Point

dirge vanishingpointEnde 2019 gab die französische Postcore-Formation nach 25 Jahren leider ihr Ende bekannt. Wirklich Spuren in der Szene konnten sie nicht hinterlassen, auch nach siebe Studioalben waren sie nur einer kleinen Fanbase bekannt. Vielleicht waren sie auch ein wenig zu abgedreht, zu weit draußen, in einem Sektor, der ohnehin schon sehr extrem ist. Schade, denn kaum eine Band konnte Trauer und Wut so gut atmosphärisch greifbar machen wie DIRGE. Diese Intensität wäre jetzt wirklich gebraucht worden, mein mentaler Zustand von Ohnmacht und Verzweiflung in der bedrückenden Pandemie spiegelt sich gut im Werk des Vierers wieder. Zum Abschied gibt es noch einmal den geballten Wahnsinn, eine Sammlung aus Raritäten und Outtakes, was bringt die Masse von "Vanishing Point" mit sich?

Man muss zugeben, dass schon der Bandname nicht passender hätte sein können, nun sieht man sich mit dieser Compilation als ein Punkt der einfach verschwindet, ein Element, welches man auch in ihrem Kompositionsstil wiederfinden konnte. Sie waren Meister darin die Übergänge fließend zu gestalten, Themen immer wieder anzureißen, sie aufzubauen, bis sie bislang vorherrschende verdrängt haben, nur um auch diese Riffs und Sounds einfach irgendwo untergehen zu lassen. Lediglich MIKE OLDFIELD war in der Lage alles so gut im Fluß zu halten, die Klangströme immer weiter mäandern zu lassen.
Dabei war die ursprüngliche Konzeption der Band eine andere, was später kam, wurde in den Neunzigern nur angedeutet, hier lässt sich aber die Entwicklung sehr gut in der Chronologie nachverfolgen. Wer wie der Rezensent nur die späteren Alben kennt, wird bei den Demo-Outtakes überrascht sein, wobei bereits hier eine musikalische Klasse angedeutet wurde. Der typische Gesang, dieses verhallte Grollen, fernab jeglicher Realität zeichnete sich da schon ab, obgleich die Musik noch geradliniger war. Die mantraartigen heftigen Drumattacken und die Riffs klingt wie eine Industrial-Variante von SEPULTURA Mitte der Neunziger.

Diese wütende Element, diese bellenden Vocals, auch mal rockige Riffs sind auch noch in "S.N.T.D.F." enthalten, einem weiter Demo-Outtake. Auch in "Bastard" finden sich Anleihen, wobei hier die Synthesizer und gehackten Riffs eher an RAMMSTEIN denken lassen, allerdings nimmt das Schlagzeug schon etwas von dem hypnotischen Feeling vorweg, dass sich bald durch das Schaffen der Franzosen ziehen soll. Hinzu kommen eben jene Postmetallischen Klänge, die es erstmals in "East" zu hören gibt, ebenso wie das noisige Dröhnen und die immer flächigeren Arrangements, was später perfektioniert wurde.
Überbleibsel der frühen Scheiben markieren dann endgültig das Etablieren ihres eigenen Stils, wo sich Songstrukturen als obsolet erweisen und es nur noch um Stimmungen geht. "The Coling" und "Submarine" sind zwei solcher Brocken mit mehr als zehn Minuten Spielzeit, die ruhig mit New Art-Rockklängen beginnen, sich aber im weiteren Verlauf immer weiter steigern, die von monotonen Rhythmusstrukturen zäh aber unaufhaltsam nach vorne geschoben werden, eine Spannung aufbauen, die einen zerreißt bis der große Ausbruch kommt, nach welchem alles wieder in sich zusammen fällt.

Nach dem Strickmuster haben DIRGE oft komponiert, wobei ich mich frage ob die Songs wirklich geschrieben wurden oder man sich nicht in irgendwelchen Jams ihre ganze Wut und Verzweiflung kanalisiert wurde. Denn gerade Verzweiflung ist eine Emotion, die sich wie ein roter Faden durch das gesamte Werk zieht, manifestiert in dem kehligen Gesang, der mit viel Hall von irgendwo weit entfernt nach Hilfe fleht. "Distance" aus den "Hyperion"-Sessions ist so ein Beispiel, welches Schicht um Schicht auf das fortwährend monotone Grundmuster baut und sich ebenso immer weiter steigert, wie auch der Remix des "Lost Empyrean"-Titeltracks mit seinem alles niederwalzenden Riff.
Gerade die Remixe sind noch weiter draußen als es das Originalmaterial schon ist. Das ebenfalls zu "Hyperion" gehörende "Anscence" ist schon ein einziges Klangmeer, auf dem ein Bass über Synthieflächen stampft und selbst die todtraurigen Leads sich nur voran schleppen, die überarbeitete Version ist noch halllastiger, lässt alles nur noch schemenhaft zurück. Auch "Sine Time Oscillations" oder "Below (Twist Of The Knife)" stellen bloße Klangwolken dar, in denen Töne nur sporadisch auftauchen und andeuten, dass es irgendwie weitergeht, dabei herrscht hier fast Hoffnungslosigkeit, die am Ende eine unheilvolle Stille hinterlässt.

Den Wahnsinn komplett macht die dritte CD mit zwei Liveversionen, die sicher auch die Jam-These untermauern, aber eben auf einem hohen Level. Während die "Wings Of Lead Over Dormant Seas"-Nummer "Epicentre" auf ihrer ursprünglichen Spielzeit von etwa fünfzehn Minuzten bleibt, wird der "And Shall The Sky Descend"-Song "The Endless" auf fast eine halbe Stunde gestreckt. Hier kann man  dann komplett von Raum und Zeit loslassen, sich zwischen Drones und doomigen Riffs suhlen, irgendwo durch Soundscapes forschen, in denen sich alles aufzulösen scheint.
Wenn Gesang ertönt, dann irgendwo zwischen Flehen und dem grollenden Schreien, Synthesizerexperimente schnauben und ganz zum Schluss steht kurzer Applaus. Der ist auch angebracht für die Leistung mit so einer losen Sammlung derart viel Atmosphäre zu erzeugen, und über den langen Zeitraum zu fesseln. Oder eher dafür dass das THE CURE-Cover "A Short Term Effect" und die MY DYING BRIDE-Verbeugung "Carrion Shrine" mit seinen aufsteigenden Synth-Gitarrenharmonien die beiden positivsten Titel darstellen, das muss man erst einmal fertig bringen. (Pfälzer)

 

Bewertung:

Pfaelzer6,5 8,5 / 10


Anzahl der Songs: 8 (CD1) / 9 (CD2) / 2 (CD3)
Spielzeit: 66:30 min (CD1) / 59:36 min (CD2) / 41:46 min (CD3)
Label: Division Records
Veröffentlichungstermin: 26.03.2021

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