Es gibt sie noch, diese besonderen Bands, die man erst reichlich spät für sich entdeckt. So geschehen bei mir mit EXTREME. Natürlich waren mir die bekannten Hits wie “Get The Funk Out”, “Hole Hearted” und der Chartstürmer “More Than Words” ein Begriff, aber erst mit ihrem Album “Six” hatte mich die Band voll in ihren Bann gezogen. Relativ kurzfristig fiel dann auch die Entscheidung, sie jetzt in der Batschkapp in Frankfurt dann doch live zu erleben.
RICHIE KOTZEN
Ohne Batschkapp, dafür aber mit einer gehörigen Portion Vorfreude begab ich mich also auf ein Konzert einer Band, von der ich nur einen Bruchteil der Songs kennen würde. Allerdings war meine Erwartung auch eher die, dass die Band ein paar Klassiker und überwiegend Material vom aktuellen Album spielen würde. Da es sich in Frankfurt um den Tour-Auftakt für Europa handelte und der erste Teil der “Six”-Tour im Frühjahr leider an mir vorbeizog, konnte es keine bessere Chance geben. Meine Erwartungen wurden in beide Richtungen erfüllt, allerdings auf unerwartete Weise. Doch dazu später mehr, denn zunächst tritt um Punkt 20 Uhr niemand anderes als RICHIE KOTZEN zusammen mit seinen beiden Mitmusikern Dylan Wilson am Bass und Kyle Hughes an den Drums auf die Bühne.
Den einstigen MR.BIG und POISON Gitarristen habe ich zuletzt mit THE WINERY DOGS live erleben können, und neben seinem unglaublichen Gitarrenspiel mag ich vor allem seine Stimme. Diese weiß er auch an diesem Abend perfekt einzusetzen, und ohne jeden der Songs zu kennen oder überhaupt allzu gut mit dem Songmaterial des Amerikaners vertraut zu sein, ziehen mich die insgesamt fünf Nummern mit teils ausufernden Jam-Beiträgen tief in ihren Bann.
Und das kommt gewiss nicht von ungefähr, denn entgegen vieler Konzerte, die man sonst so erlebt, handelt es sich hierbei nicht um eine Show. Es geht hier tatsächlich rein um die Musik und das geniale Zusammenspiel der Musiker. Zugegeben, das klingt leicht überheblich und etwas schräg. Aber Fakt ist nun mal, dass die Band ihrer Musik freien Lauf lässt. Natürlich dient ein Song als Grundgerüst, ansonsten bietet das Trio aber sehr viel Jam-Anteil und so ist es wenig verwunderlich, dass es in dem kurzen Set auch ein Drum- und Bass-Solo gibt.
Die Band wirkt jedenfalls perfekt aufgelegt und hat mächtig Spaß, den sie auch durch ein defektes Gitarrenkabel nicht verliert. Der Fun-Faktor überträgt sich auch auf das Publikum, in dem an diesem Abend viele Gitarristen zugegen sind und Richie natürlich genau im Auge behalten. Ein sehr guter Auftakt mit glasklarem Sound, auch wenn er um 20:37 Uhr bereits vorbei ist.
EXTREME
Noch immer ohne Batschkapp, dafür aber mit noch mehr Vorfreude wird es ziemlich genau um 21:15 Uhr dunkel und das Intro von EXTREME erklingt. Los geht es mit “It ('s a Monster)”, dicht gefolgt von “Decadence Dance”. Ein sehr guter Einstieg, der bereits erahnen lässt, dass dieser Abend unvergesslich werden wird. Die Band wirkt extrem gut gelaunt, der Sound passt, stimmlich ist Gary Cherone in Höchstform und Nuno konnte bei den ersten Soli bereits seinen großartigen Gitarrensound unter Beweis stellen. Drummer Kevin Figueiredo und Bassist Pat Badger legen dazu den perfekten Rhythmus-Teppich und alles passt haargenau - was bei derart technisch anspruchsvoller Musik nicht immer selbstverständlich ist.
Nach kurzer Begrüßung gibt die Band mit “#Rebel” den ersten Song des Abends vom Album “Six” zum Besten. Die Nummer kommt live noch deutlich cooler rüber und mein gutes Gefühl hält weiter an. Die Band befindet sich in Topform und präsentiert sich entsprechend. Der teils dreistimmige Gesang ist großartig, und wer sowas schonmal versucht hat zu tun, weiß durchaus, wie schwierig es ist, dass es genauso klingt wie an diesem Abend. Schaut man Gary Cherone dabei zu, wie er über die Bühne flitzt, wundert es nicht, dass er einst bei VAN HALEN an Bord war. Der Gute steht gefühlt keine Sekunde still, wechselt mehrfach sein Outfit während des Konzertes und ist der geborene Entertainer.
Mit “Rest In Peace” und “Hip Today” folgen zwei weitere Nummern im Set, die mir bisher unbekannt waren. Auch diese beiden Nummern überzeugen mich auf Anhieb und zeigen mir einmal mehr, was ich noch alles nachzuholen habe, vor allem “Hip Today”, welches ich wohl schon öfters mal im Vorbeigehen unbewusst gehört habe, aber nie dermaßen cool wie an diesem Abend.
Nun kündigt Nuno (stilvoll mit Batschkapp auf dem Kopf) an, dass ein wenig was vom Debütalbum folgen wird. Ein wenig ist dabei leicht untertrieben, denn die Band präsentiert ein Medley aus insgesamt fünf Stücken, wobei Nuno hier zum Teil auch gekonnt diverse kleinere bekannte Riffs anderer Bands dazwischen spielt. Ich bin einerseits nicht der größte Fan von Medleys, sind sie aber in einer derart guten Form wie diese hier, dann gibt es keine Einwände. Zumal EXTREME damit einfach mal fünf Songs ihres Debütalbums unterbringen, was vor allem den frühen Fans besonders gut abgehen dürfte.
Mit “Play With Me” drückt die Band anschließend ordentlich aufs Gaspedal und spielt das Finale vom Debütalbum in voller Länge. Mit “Other Side Of The Rainbow” vom aktuellen Album wird anschließend erstmal etwas durchgeatmet. Hierzu hält Nuno erneut eine kurze Ansprache und bedankt sich bei den Fans über den Erfolg des neuen Albums. Was für eine Band wie EXTREME keineswegs selbstverständlich ist, sie sind noch immer weggeblasen davon, wie gut das Album angekommen ist. Bevor er loslegt, erzählt er noch eine kleine selbstironische Story über den Hut, den er stilvoll aufsetzt und der handgemacht aus Nashville stammt. Zumindest mir war bis zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst, wie unterhaltsam der Gute ist und vor allem, wie selbstironisch er sein kann. Ohne zu viel von der Story zu verraten, ein schöner Seitenhieb auf den Kapitalismus Amerikas. Gefühlt kommt “Other Side Of The Rainbow” extrem gut beim Publikum an, kein Wunder, die Nummer hat wahnsinniges Ohrwurmpotential und wird live sehr gut präsentiert.
Mit “Hole Hearted” feuert die Band anschließend den einen anderen Hit raus. Auch dieser kommt sehr gut beim Publikum an und wird in den ersten Reihen überschwänglich gefeiert. Kaum eine andere Band versteht es derart gut, akustische Gitarren mit einem coolen Beat und knackigen Refrains zu verpacken.
Mit der Ankündigung “Let’s get back to rock!” setzt der tosende Bass von Pat ein, und zunächst klingt es (nicht nur für mich) nach “Get The Funk Out”, tatsächlich ist es aber “Cupid’s Dead” vom Album “III Sides to Every Story”, mit “Am I Ever Gonna Change” bleibt die Band zunächst bei diesem Album, bevor es sehr modern mit “Thicker Than Blood” zum titelgebenden Song der Tour kommt. Eine großartige Nummer, die live viel Druck aufbaut, der Effekt auf Garys Stimme wirkt zumindest auf mich an diesem Abend aber etwas überrissen, war möglicherweise aber Absicht. Ein Glück, dass dieser nicht den gesamten Song durch klingt.
Nach einer Ansprache an die Gitarristen (“Ja! Jeder Gitarrist braucht mindestens 23 Gitarren!”), einer selbstironischen Rede über das Alter und einer Lobrede auf RICHIE KOTZEN, nimmt Nuno erstmal Platz und spielt den “Midnight Express", der mir sprachlos die Kinnlade runterfallen lässt. Anschließend folgt das Handygeddon und “More Than Words” wird gespielt. Der noch immer größte Hit von EXTREME wird lauthals vom fast ganzen Publikum mitgesungen und hat auch so viele Jahre nach seinem Erscheinen noch nichts von seiner Magie verloren.
Anschließend wird kurzerhand dreistimmig “Fat Bottom Girls” von QUEEN gesungen, was als Intro für “Banshee” genutzt wird. Ein weiterer Song des aktuellen Albums, den ich live noch deutlich cooler finde. Immer wieder fuddelt Nuno zwischen den Songs und Ansagen kleinere Tribute an EDDIE VAN HALEN ein. Neben dem großartigen “Eruption” auch “Ain’t Talking About Love” und andere bekannte Riffs. Das macht er so auffällig unauffällig, dass es wirklich Spaß macht. Mit “Take Us Alive” vom Album “Saudades de Rock” geht es bluesig weiter, der Song mündet passenderweise in “That’s All Right”, was verdammt gut ankommt und natürlich auch bestens harmoniert. Es folgt das unfassbare “Flight of the Wounded Bumblebee”, das mir einmal mehr zeigt, entweder ich übe mehr Gitarre oder ich hänge das Ding an den Nagel. Einfach unglaublich wie Nuno da übers Griffbrett fliegt, dass ich das noch live erleben darf, hätte ich niemals erwartet.
Nachdem Nuno bereits die gleichnamige Kopfbedeckung zum Venue trug ist nun Basser Pat an der Reihe und zieht eine für “Get The Funk Out” auf. Der Song kommt erwartungsgemäß gut an und die gut gefüllte Batschkapp ist ordentlich in Bewegung. Danach wird es erstmal dunkel, und obwohl die Band schon eine enorme Spielzeit aufs Parkett gelegt hat, kehrt sie nach tosendem Applaus für “Small Town Beautiful", das gekonnt in “Song For Love” übergeht, zurück auf die Bühne. Doch damit nicht genug, anschließend setzt die Band mit dem gigantischen “Rise” zum großartigen Finale an und tatsächlich spielt Nuno das Solo genau wie auf Platte. Anschließend verabschiedet sich die Band zum Outro (“Here’s To The Losers”) nach einem über zweistündigen Konzert unter tosendem Applaus von ihren Fans.
Was für ein triumphaler Abend. Selten erlebt man noch derart lange Konzerte, das hier ist Arena-Rock vom Feinsten, aber in einer Halle. EXTREME haben einmal mehr unter Beweis gestellt, dass sie keineswegs abzuschreiben sind und auch 2024 live noch mehr als überzeugen. Entgegen manchen Kollegen, die so einiges in den letzten Jahren an Boden verloren haben, sind diese Herren wohlauf. Musizieren wie Götter und haben sogar noch ein aktuelles sehr gutes Album am Start. Ich kann nur jedem, dem es so ging wie mir und an dem EXTREME all die Jahre etwas vorbeizog, wärmstens empfehlen, hier unbedingt mal reinzuschnuppern. Dieser Abend wird mir noch sehr lange in Erinnerung bleiben, und ich bin sehr froh darüber, kurzentschlossen doch noch den Weg nach Frankfurt angetreten zu haben. Und allen anderen kann ich nur sagen: “If you don't like what you see here
Get the funk out!” (Pascal)
Setlist EXTREME:
It ('s a Monster)
Decadence Dance
#Rebel
Rest in Peace
Hip Today
Teacher's Pet / Flesh 'n' Blood / Wind Me Up / Kid Ego / Mutha (Don't Wanna Go to School Today)
Play With Me
Other Side Of The Rainbow
Hole Hearted
Tragic Comic
Cupid's Dead
Am I Ever Gonna Change
Thicker Than Blood
Midnight Express
More Than Words
Banshee
Take Us Alive / That's All Right
Flight of the Wounded Bumblebee
Get the Funk Out
Small Town Beautiful / Song for Love
Rise
(Fotos: Pascal)