„Hell Raiser“ und „Ballroom Blitz“ haben mich als Kind zum Hardrock gebracht. Erst durch SWEET wurde ich auf DEEP PURPLE, BLACK SABBATH, URIAH HEEP, LED ZEPPELIN und all die großen Rockbands wirklich aufmerksam. Das war die Zeit des düsteren Mittelalters, als im Radio Bernd Clüver, Rex Gildo oder Jürgen Marcus in Dauerschleife liefen und Dieter Thomas Heck als Zeremonienmeister der Musik fungierte. Englische Musik, geschweige denn Rockmusik, bildete die absolute Ausnahme.
Jeden Samstag saß ich mit meinem Kassettenrekorder vor dem Küchenradio, denn da lief eine der wenigen guten internationalen Radiosendungen, „die großen Acht von Radio Luxemburg“. Noch heute habe ich das Intro im Ohr als wäre es gestern gewesen, dass mich so faszinierte und diese energetische Explosion auslöste: „Are You Ready Steve?, Uh-Huh, Andy? Yeah, Mick? Okay, Allright Fellas, Let`s Go!“. Und dann brach dieser Lärm aus; die harten Drums von Mick Tucker und dazu Andy Scotts schneidende Gitarrenriffs in einer der größten Hymnen des Glam-Rocks, die so übermächtig aus dem schrottreifen Radio tönte.
Wir wollten alle so „cool“ wie Brian Connolly mit seiner unnahbaren Ausstrahlung sein; aber Steve Priest, Andy Scott oder Mick Tucker wären auch ok gewesen. Das waren die frühen Siebzigerjahre, in der SWEET alle Hitparaden stürmten, bereits ihre erfolgreiche „Bubblegum-Pop-Phase“ mit Hits wie „Co-Co“ und „Poppa Joe“ abgelegt hatten, und deutlich härter wurden. So schossen sie Hit auf Hit in die Charts und gehörten mit T-REX zur Speerspitze des Glamrocks; dabei waren sie stellenweise härter als so manche progressive Rockband ihrer Zeit. „Sweet F.A“ oder „Set Me Free“ stehen exemplarisch dafür. Noch deutlicher wird es auf den Liveveröffentlichungen, z.B. „Burning / Someone Else Will“ vom 1973er Live At The Rainbow; das ist knallharter Heavy Metal.
Aber gerade die Single-Hits wie z.B. „Hellraiser“, „Teenage Rampage“, „Action“ oder „Blockbuster“ bis heute legendär. Verantwortlich dafür waren die zu diesem Zeitpunkt größten Hitproduzenten, Mike Chapman und Nicky Chin, die die Band so erfolgreich vermarkten konnten, dass sie zeitweise auf jedem Magazincover präsent waren. Die meist wesentlich härteren Eigenkompositionen ließ das Produzenten-Gespann höchstens als B-Seiten zu; SWEET zeigten aber vehement, dass sie mehr als gutaussehende Cover-Boys der „Bravo“ mit Glitzer und Plateausohlen waren. Aufgrund der Vermarktung und Omnipräsenz oft belächelt, ist der enorme musikalische Einfluss auf spätere Mega-Bands, die mit größter Verehrung von SWEET sprechen, unumstritten. Laut Gene Simmons hätte es „ohne SWEET KISS nie gegeben!“ Nikki Sixx erklärte: MÖTLEY CRÜE wollten immer wie SWEET sein!“ DEF-LEPPARD-Frontmann Joe Elliott zieht seinen Hut: „Sweet ist die Band, zu der ich immer gehören wollte!“
Nun stellt sich die Frage, was ist von SWEET nach über 50 Jahren geblieben außer 55 Millionen verkaufter Tonträger und 34 Nr. 1 Hits. Brian Connolly, Steve Priest und Mick Tucker sind lange tot aber der weißhaarige Gitarrist Andy Scott hält als einzig Überlebender des Original-Lineups das Erbe dieser großen Band, ähnlich wie Mick Box mit URIAH HEEP, aufrecht und transferiert diese Musik live bis in die heutige Zeit. Dieses Vermächtnis setzt Andy Scott mit namhaften und gestandenen Musikern um, dem erfahrenen Sänger Paul Manzi, der seinen eigenen Stil verwirklicht aber live bei den Hits mit seiner vielschichtigen Stimme auch verdammt gut die Tonlage von Brian Connolly umsetzen kann. Seit 2019 steht Lee Small am Bass, Schlagzeuger Bruce Bisland stieg bereits 1991 bei SWEET ein.
Die Band befindet sich aktuell auf ausgedehnter Abschiedstour und laut Andy Scott wird sich bald der Kreis schließen. Dementsprechend trägt das am 20. September erscheinende neuste und wohl definitiv letzte Studioalbum von SWEET den Titel „Full Circle“. Gleich vorweg: Dieses Album ist kein klassisches SWEET-Album im Stil der Siebzigerjahre. Es ist ein eigenständiges, melodiöses Hardrock-Album das durchaus zu gefallen weiß aber nicht ausschließlich auf dem typisch markanten SWEET-Sound aufbaut; wohl gemerkt, nicht ausschließlich, denn beim genauen Hinhören sind doch faszinierende Details festzustellen, die typisch für die großartige Originalbesetzung stehen.
Dazu gehört definitiv der Opener „Circus“, ein klassischer Rocker, wobei das prägnante Riff von Andy Scott und die Synthesizer-Fragmente wunderbar an „Action“ erinnern. Starke Gitarren dominieren auch „Don`t Bring Me Water“. Hier wird AOR vom Feinsten in einer Power-Ballade geboten; sehr hymnisch mit einem hervorragenden Sänger, einem aufbauenden Melodiebogen und kurzen, recht brachialen Riffs von Andy. Das ist richtig gutes Handwerk und das Gitarrensolo von Andy bewegt sich in härterer Gangart. Die gleiche Songstruktur bietet „Burning Like A Falling Star“; krachendes Eröffnungsriff in dominantem Synthesizer-Klanggewand- Dazu durchziehen prägnante Riffs immer wieder die balladeske Struktur; ein schöner Song mit Wechselgesang zwischen Andy und Paul. „Changes“ und „Defender“ sind großartige Rockballaden, poplastig aber sehr memorabel. Paul Manzi zeigt die Stimmvarianz, über die er verfügt. Es sind wohl die nostalgischen Gefühle schuld, dass ich auf ein typisches Interlude von Steve Priest warte aber „Blockbuster“ ist Vergangenheit.
„You Are Everything“ ist fantastisch, eine vorantreibende Ballade mit der SWEET-typischen Triple-Gesangsharmonie. Hier kriege ich Gänsehaut, denn das ist es doch, was der Fan erwartet. Da muss Paul Manzi auch nicht Brian Connolly imitieren, um den alten extravaganten Sound zu kreieren. Davon hätte ich gerne viel mehr gehört.
Flott präsentiert sich die druckvolle Hommage an Germany, „Destination Hannover“, wo sicherlich die treusten Fans der Band bis heute angesiedelt sind. Mit „Rising Up“ kommt erneut eine Powerballade mit melodischer Leichtigkeit und sehr guten Harmonien. „Fire In M Heart“ ist Pop-Rock, der mich nicht wirklich überzeugt, zwar eine gute Melodie aufweist aber austauschbar ist und SWEET waren doch niemals eine derart melodische Rockband. Aber da kommt ungewollt wieder der Nostalgiefaktor ins Spiel.
„Coming Home“ drosselt dann nochmals die Geschwindigkeit. Der Song ist sicherlich sehr gut arrangiert aber etwas seicht. Ganz kurz kommt der typisch kanonische Chor zur Geltung, meiner Meinung nach zu kurz. „Full Circle“ mit markantem Drum-Intro ist eine großartige Schluss-Nummer und zeigt einen gewaltigem SWEET-Refrain, mit dem sich der Kreis wohl endgültig und in Würde schließt; die definitive Abschiedshymne. Andys Gitarrensoli sind bei allen Songs perfekt gesetzt, nicht von übertriebener Länge und zeigen, wie gut er sein Handwerk versteht.
Hoffen wir, dass SWEET noch zahlreiche Bühnen bis zum letzten Konzert erobern und ihren wunderbaren Rock der jetzigen Generationen nahebringt. Die CD ist ein würdiger Abschluss. Insgesamt eine gute und melodiöse Rockscheibe die manchmal aufblüht wie ein „Ballroom Blitz“ und Vergangenheit gut mit der Gegenwart kombiniert. (Bernd Eberlein)
Bewertung:
7,5 / 10
Label: Metalville Records
Anzahl der Songs: 11
Spielzeit: --:-- min
Veröffentlichungstermin: 20.09.2024