Livemusik-Weil "Live" von "Leben" kommt - Eine Kolumne

live 20171027 0503 impressionsEs war am Abend des 2. Juni 2013 beim HiRock-Festival, auf welchem sich der Verfasser dieser Zeilen zuvor bei starken Gigs von EUROPE oder WHITESNAKE verausgabt hatte. Das saß er nun, völlig entkräftet wie ein Boxer, der vor der zwölften Runde aussichtslos zurück liegt. Das eilig herbei gekarrte alkoholfreie Weizen zeigte ebenso wenig Wirkung an der körperlichen Konstitution wie die schnellen Kohlenhydrate der letzten Gummibärchenreserven. Irgendwann gingen die Flutlichter über dem altehrwürdigen Halbrund der Loreley aus, Jonathan Cain trat hinter seinen Synthesizer und begann mit der legendären Fanfare zu „Seperate Ways (Worlds Apart)“ dann tauchte Neal Schon mit seinen Saitenstaccato auf. Und plötzlich war es, als wäre nichts geschehen, ich war der sprichwörtliche Morgentau, der mit einer unglaublichen Frische das Set von JOURNEY abfeierte.
Doch was für eine Macht, was für eine Hexerei, was für eine Magie ist es, die scheinbar Tote wieder zum Leben erweckt?

Sie hat einen einfachen Namen: Livemusik! Es kann natürlich sein, dass es sich dabei um eine Droge handelt, aber eine sehr angenehme, die nur gibt und höchstens negative Folgen für die Ohren hat. Süchtig werden danach kann man sicherlich, und das auf beiden Seiten der Bühne. Wie einst Matthias Jabs schon in der Dokumentation den Rücktritt vom Rücktritt der SCORPIONS rechtfertigte: „Wenn man es einmal erlebt hat, will man es immer wieder, es ist wie Adrenalin!“ Deswegen touren auch all diese alten Helden unentwegt weiter, selbst wenn ihr Kontostand keine Notwendigkeit offeriert. Den Fans vor der Bühne geht es genauso, und ihnen ist es egal, wenn sie damit ihren Kontostand eher auf unteren Anschlag bringen, livehaftige Musik kennt kein zu großes Opfer.

Es ist dieser Austausch zwischen Künstler und Zuschauer, dieses gemeinsame Erleben, dieses gemeinsame Abtauchen in die Welt der Songs, die einem so viel geben. Wenn man sie so unmittelbar vom Komponisten und Verfasser hört, der diese auf unzähligen Gigs verinnerlicht hat, wenn man sieht wie sie Abend für Abend neu entstehen, dann wirken sie noch intensiver. Dazu ist man unter Gleichgesinnten, die alle das Gleiche empfinden, wenn auch in unterschiedlichen Interpretationen. Doch die Stimmung vereinnahmt jeden im Saal oder Stadion, sie wird auf den Schallwellen transportiert, die so direkt in Herz und Seele gehen, wie es auf Konserve nie möglich sein kann.
Man sieht sich in die Augen, man sieht die Emotionen des anderen, man spürt wie sehr einen die Songs berühren. Unabhängig davon, ob einem die Melodien oder die Inhalte mehr bedeuten. Dann wenn sich alle Körper miteinander zum Takt der Rhythmen bewegen. Wenn einen die Lieder so mitreißen, dass man gar nicht anders kann als mitzugehen bis der Schweiß aus allen Poren dringt. Wenn einem die Gefühle dahinter so nahe gehen, dass die Tränen fließen. Am Ende mag Erschöpfung stehen, doch es ist jene positive Erschöpfung, die man spürt wenn man etwas vollbracht hat. Das ist der Unterschied zwischen einem Musik – und einem Sportevent, hier gehen alle als Sieger vom Platz.

Es gibt natürlich viele Menschen, die ich schon fast als Ungläubige bezeichnen würde, die kein Verständnis dafür haben. Die nach dem völlig unverständlich abgebrochenen Rock am Ring 2016 lapidar mit „Nächstes Jahr ist wieder ein Festival“ reagiert haben. Dabei ist keine Freude schöner als die Vorfreude und wenn man dann etwas vor den Augen genommen kriegt ist es umso härter. Nein, man kann nicht Event gegen Event aufrechnen, jedes Konzert ist einzigartig, der Ort ist anders, die meisten Anwesenden auch. Nun gibt es abgebrochene Tourneen, und die Fans, die sich so darauf freuten wissen nicht, ob auch sie die dort gespielten Songs zu hören bekommen, vielleicht ist bis zur nächsten Tour wieder ein Album draußen und viele Titel vom aktuellen dann nicht mehr im Set.

Man kann das Luxussorgen nennen, für Menschen, die mit Leidenschaft dahinter stehen kommt das Ängsten gleich. Wenn man Livemusik so sehr liebt wie unsere Redakteure, dann merkt man jetzt erst was fehlt. Wohin mit all dem Frust, der sich im Leben zwangsläufig aufbaut? Gibt es einen besseren Ort als ein gepflegter Pit um alles fröhlich und gemeinsam von sich zu rocken? Musik war schon immer ein Eskapismus, daran kann nichts falsch sein, und der von live gespielter wirkt auch nachhaltig.
Wer sitzt nicht mit breitem Lächeln auf der Heimfahrt im Auto, unterhält sich noch lange mit seinen Freunden darüber? Sei der Weg von einem Festival heim noch so lange, er geht so viel leichter vonstatten als die Fahrt dorthin. Den Gefühlen erwachsen Flügel, die negativen fliegen davon, die positiven verleihen einem Aufwind, vor allem mental. Gerade für Menschen in schwierigen Situationen und psychisch angespannten Phasen ist das ein willkommener Ausgleich. Ganz speziell für viele Musiker, die in ihren Liedern auch persönliche Traumen verarbeiten und für die jede Aufführung eine weitere Katharsis ist.

Nun steht all die Livemusik still und die Clublandschaft sowie viele kleine Bands vor dem kollektiven Aus. Sicherlich werden die großen Bands überleben, aber die existieren auch nicht ewig und was hat das für Folgen? Müssen sich nach dem Sturm Musikliebhaber um Tickets für nach Minuten ausverkauften Konzerten prügeln und bekommen ominöse Plattformen wie Viagogo noch mehr Macht? Wie soll ohne Gigs für kleine Bands die Saat aufgehen für spätere große Acts. Die Redakteure von NECKBREAKER haben einst NIGHTWISH in der RoFa Ludwigsburg gesehen, VOLBEAT im kleinen Roxy in Saarbrücken und POWERWOLF als Local Support an gleicher Stätte. Was ist denn für Künstler und Fans schöner als nicht nur während der Shows zusammenzuwachsen, sondern auch zusammen zu wachsen, den Weg von Anfang an mitzugehen. Wir alle haben Erinnerungen an großartige Liveerlebnisse, helft alle mit, damit sie nicht nur Erinnerungen bleiben. (Pfälzer)

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