Rush - Clockwork Angels

rush_clockworkangelsEhre oder Bürde? Über seine absolute Lieblingsband zu schreiben ist immer ein zweischneidiges Schwert. Und im Falle betagterer Semester wie mir auch ein recht schwieriges Unterfangen, da die meisten Helden die Rente eingereicht haben. Daran denken RUSH noch lange nicht, die Truppe ist ein Phänomen und das in vielerlei Hinsicht und bedeutet mir deswegen so viel. Und ein Phänomen, welches schwer zu erklären ist, selbst gestandene Rocker wie KISS-Frontzunge Gene Simmons haben ihre Probleme, die Musik der Formation auf einen Nenner zu bringen.
Wie immer man ihre Musik auch nennen will, die sie auf ihrem zwanzigsten Studioalbum (die Cover-EP "Feedback" mit eingerechnet), das die Tage veröffentlicht wird nennen will, die Rockwelt hört genau hin. Mit "Clockwork Angels" meldet sich die Prog-Instutition zurück um zu zeigen, dass sie auch heute noch relevant ist. Dazu bedarf es wie immer neuer Ideen, gelingt es den Canucks erneut zu überraschen? Dabei war es noch nicht einmal sicher, ob es noch ein weiteres Album geben wird, denn die Herren hielten das Format für veraltet. Doch die um ihre neue Marschroute unter Beweis zu stellen, auf ihrer Homepage veröffentlichten Titel riefen die Fans auf den Plan, die nach einem kompletten Werk riefen. Eine weitere Vorabveröffentlichung später ist es nun so weit.

Das Trio aus Kanada lebte stets in seiner eigenen Welt und hat in dieser Maßstäbe gesetzt. Sei es bei der Bühnenproduktion mit monströser Lightshow oder musikalisch. Das Progmetal-Genre haben sie fast im Alleingang aus der Taufe gehoben und ihr Einfluss reicht bis in die heutige Zeit. In eine Zeit, in der sie es langsam angehen lassen und ihre Fans nur noch alle fünf Jahre mit einem neuen Album beglücken. Zum Trost darf man sich über viele DVD-Veröffentlichungen und Greatest Hits-Touren freuen. Erst im letzten Jahr führte sie das "Time Machine"-Programm rund um den Globus, wo sie ihr Referenzwerk "Moving Pictures" erstmalig komplett aufführten. RUSH sind Kult, im wahrsten Sinne des Wortes. Ihr Bekanntheitsgrad ist nicht allzu hoch, weswegen sie nur selten in den Bestenlisten auftauchen. Doch ihre Erfolge sind rekordverdächtig und wer einmal mit dem Virus infiziert wurde kommt davon nicht mehr los. Deswegen gelten sie bei den meisten ihrer Anhänger als die beste Band der Welt, die größte Kultband sind sie ohnehin. Das führte sogar dazu, dass die renommierten Musikfilmer Sam Dunn und Scott McFayden mit "Beyond A Lighted Stage" eine Dokumentation über sie drehten.

RUSH, das ist auch die Geschichte von drei Menschen, die nicht nur durch die Musik und ihren Hang zu schrägem Humor miteinander verbunden sind, sondern auch durch tiefe Freundschaft. Als nach "Test For Echo" die Tochter und die Frau von Neil Peart innerhalb eines Jahres verstarben stand die Band auf der Kippe. Der Drummer suchte sein Heil in der Einsamkeit und fuhr jahrelang mit dem Motorrad durch Nordamerika. Doch seine Bandkollegen hielten an ihm fest und warteten auf seine Rückkehr.

Die oben verlangte Überraschung gelingt schon beim Öffnen des von Hugh Syme großartig gestalteten Booklets, denn einleitende Textzeilen deuten auf ein Konzeptalbum hin. Und in der Tat hantieren RUSH erstmals in ihrer Karriere mit der Königsdisziplin des Prog. Dabei hat Texter Peart ein weiteres Mal sein Faible für Science Fiction ausgelebt. Es gehört seit jeher zu den Besonderheiten, dass der schon als Autor in Erscheinung getretene Schlagzeuger für die Lyrics verantwortlich ist. Hierbei handelt es sich um eine Zusammenarbeit mit Kevin J. Anderson, die noch als Roman veröffentlicht werden soll.
Dieser zeigt die Zukunft aus der Sicht der Vergangenheit, angelehnt an frühere Utopisten wie Jules Verne. Das Ganze  thematisiert die Träume, Reisen und Ideen eines jungen Mannes aus dieser Epoche. Aus einem Zeitalter, als man noch auf die Kraft der Alchemie setzte und dachte, auch die späteren technischen Errungenschaften würden alle mit Dampf angetrieben. Schon auf ihrer letzten Tournee war das Bühnenbild stark vom Steampunk geprägt, der nun auch in den Bildern dargestellt wird.

Die beiden auf der letzten Tour vorgestellten Stücke machen dann auch den Auftakt, der vielen Fans bekannt vorkommen dürfte. Stilistisch rückt man wieder in die modernere Richtung und baut Einflüsse aktuellerer Progacts wie TOOL oder auch New Artrock-Anklänge ein. Mit dieser modernen Härte nimmt man den Faden des etwas kruden "Vapor Trails" wieder auf. Vor allem "BU2B" besticht ähnlich wie "Carnies" durch ein für ihre Verhältnisse hartes aber auch grooviges Riff. Dabei schafft man es dennoch, dass sich die Stücke eindeutig als RUSH identifizieren lassen, was auch an der Melodieführung liegt.
Hier erfährt man genau das, was diese Formation immer ausgezeichnet hat, dass sie stets sich vom Zeitgeist inspirieren ließen, aber im Kern nie veränderten. Hat man in den Siebzigern als eine stark an LED ZEPPELIN angelehnte Hardrockkapelle angefangen, so baute man schon beim zweiten Album Elemente des progressiven Rock ein. So schuf man einige legendäre Longtracks und verfeinerte den Stil mit Hinzunahme von Folk und Jazz sowie der Verwendung neuer Keyboardtechnologie weiter. Dadurch entwickelte sich diese typische verschachtelte und komplexe Rhythmik, die ihres gleichen sucht.
In den Achtzigern flirtete man offen mit dem Synthie-Pop, ohne den eigenen Sound zu verwässern, bevor man auf "Presto" dem Trend zurück zu härteren, reineren Klängen Rechnung trug. Mit "Counterparts" öffnete man sich in Richtung Grunge und Alternative, was ebenso mit ihrem Bandsound harmonierte wie die raue Moderne auf "Vapor Trails". Einzig "Snakes & Arrows" fällt aus dem Rahmen, ist es eher von den Arbeiten an der Cover-EP inspiriert. Doch nach der Tragödie bedurfte es dieser Rückbesinnung, um sich als Gemeinschaft wieder zu finden.

Auch der folgende Titelsong wartet mit denselben Zutaten wie die bereits bekannten Lieder auf. Moderne Riffs, rockige Strophen, dann eher sphärische Gitarrenarbeit in den melodischen Refrains und in den Soloparts. Man könnte "Clockwork Angels" beim ersten Mal hören vielleicht vorwerfen, dass man die Stücke nach dem gleichen Schema zusammen baut. Aber das ist auch einer gewissen Sperrigkeit des Materials geschuldet, welches sich erst nach mehrmaligem Hören erschließt. Dann schälen sich all diese kleinen Feinheiten heraus, die den jeweiligen Charakter definieren. Es gibt so viel zu entdecken, was dem Werk eine ausgesprochene Langzeitwirkung verleiht.

Da wären zum Beispiel die genialen und sehr wuchtigen Drums in "Seven Cities Of Gold", die geschickt zwischen Groove und knalligen Arrangements wechseln. Überhaupt weiß Neil Peart genau wie er mit seinem großartigen Gefühl und der Leichtigkeit seines Spiels jeden Song noch ein Stück weit voran bringen kann. Das zeigt sich am besten beim fast metallischen Drumming in der Vorab-Single "Headlong Flight", das mit vielen interessanten Instrumentalabfahrten glänzt. Dazu gibt es zwei kleine "The Pedlar 1& 2" betitelte Instrumentals, die auf der Spur der Hochzeit dieser Truppe wandeln.
Das erste leitet das durchweg treibende "The Anarchist" ein, welches beim orientalisch angehauchten Mittelteil mit Streichern überrascht. Lediglich bei "Power Windows" und "Nobody´s Hero" von "Counterparts" arbeitete man mit Orchesterinstrumenten, hier experimentiert man mehrfach damit. Vor allem das leichtfüßig schwebende und wunderbar melodiöse "The Wreckers", das auch hätte von "Presto" stammen können gewinnt dadurch. Der abschliessenden Ballade "The Garden" tun diese Arrangements ebenfalls gut und die bombastischen Steigerungen im Refrain des getragenen "Halo Effect" sind grossartig.

Hier haben RUSH mal wieder neue Zutaten in ihren Sound rein gemischt, die sich gut einfügen. Für den Klang ist erneut Nick Raskulinecz zuständig, der schon beim Vorgänger hinter den Reglern saß. Ihm gelang es die Live-Power einzufangen, die Scheibe atmet eine dezente Rohheit, jedoch nicht so ausgeprägt wie auf "Vapor Trails". Trotz dieser Reduziertheit fällt der Longplayer druckvoll und voluminös aus, hier gelingt eine tolle Balance. Das kommt den einzelnen Instrumenten gut, die alle ungemein transparent heraus zu hören sind. Vor allem Geddy Lees Bass war noch nie so deutlich zu vernehmen, teilweise geht er bis tief in die Magengrube.

Sie schaffen es also erneut der Konkurrenz die Hacken zu zeigen, auch wenn "Snakes & Arrows" die stärkeren Songs hatte, einen Hit wie "Far Cry" sucht man hier vergeblich. Sicherlich reicht die Klasse auch nicht an "Moving Pictures" oder "Grace Under Pressure" heran, aber das kann man heute auch nicht mehr erwarten. Wichtig ist für die Fans vor allem, dass auch hier wieder ein Schritt nach vorne gemacht wurde, auch wenn der nicht mehr so revolutionär wie auf "2112" oder "Hemispheres" ausgefallen ist.
Trotzdem ist man von blosser Zielgruppenbedienung noch weit entfernt und die Ankündigung die Streicher eventuell auf die Bühne zu bringen hat ebenfalls für Aufsehen gesorgt. Überhaupt wagt man sich auf der bereits angekündigten Tour 2013 mit dem Auftritt beim SwedenRock wieder auf ungewohntes Terrain. Immerhin mied man Festivals seit Jahrzehnten und war in Europa seit 1980 auf keinem mehr zu Gast. RUSH wollen mit ihrer Produktion vor ihrem Publikum spielen, nun finden sie wieder den Mut raus zu gehen. Es bleibt also spannend und wenn sie in dem Tempo weiterarbeiten, haben sie noch Zeit für zwanzig weitere Scheiben bis zum offiziellen Bandende. (Pfälzer)

 

Bewertung: 8,5 / 10


Anzahl der Songs: 12
Spielzeit: 66:08 min
Label: Anthem/Roadrunner
Veröffentlichungstermin: 08.06.2012

Wertung der Redaktion
David Bernie Kevin Maik Simon Anne Jochen
8,5 7,5 9 9 9 8 8,5
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