The Rolling Stones - Hackney Diamonds

TheRollingStones HackneyDiamonds smallWie beurteilt man eine Band, die fast sechzig Jahre nach Erscheinen ihres Debuts „England`s Newest Hitmaker“ ein neues Album herausbringt. Denn eigentlich sind die ROLLING STONES und ihre Bedeutung für den Rock`N Roll über allem erhaben, unvergleichbar, unerreichbar, unverzichtbar und unzerstörbar. Eine Institution, die ich niemals im Leben missen möchte, nachdem ich sie 1980 zum ersten Mal im Müngersdorfer Stadion gesehen hatte und ich die Mitdreißiger damals mit juveniler Arroganz als uralt einstufte.

Eines war für mich im Vorhinein klar. Völlig egal, wie „Hackney Diamonds“ ausfallen würde; ich würde das Album lieben, allen Kritiken gegenüber verteidigen und einfach nur glücklich sein, neues Songmaterial seit dem wirklich schwachen „A Bigger Bang“ aus dem Jahr 2006 in den Händen zu halten; sieht man von dem Blues-Coveralbum „Blue And Lonesome“ von 2016 einmal ab. Somit ist meine devote Hingabe zu den ROLLING STONES wohl eine autarke Auseinandersetzung mit „Hackney Diamonds“. Und so gilt mein „Fuck You“ gleich all den Nörglern, die wieder manifestieren werden, dass den STONES kein zweites „Exile On Main Street“ gelungen ist , die erneut lamentieren, dass Mick Jagger noch nie singen konnte und Keith Richards kein begnadeter Gitarrist ist. Sie alle werden emotionslos den Rock `N Roll nie verstehen.

Mit der vorab veröffentlichten Leadsingle „Angry“ verfliegt jede Befürchtung, die STONES könnten alt oder altersmilde geworden sein. Das einleitende brachiale Riff von Keith Richards haut mich um. Mit fester und kraftvoller Stimme und der Inbrunst eines Zwanzigjährigen haut Mick Jagger dann in arrogantestem Cockney-Englisch wütend die Message „don`t get angry with me“ raus. „Angry“ entpuppt sich schnell als Riff-rockendes Monster und versprüht einen derart geilen Vibe, dass es mit den ganz großen Nummern wie „Start Me Up“ oder „Satisfaction“ vergleichbar ist. Hinzu kommt natürlich, dass das inszenierte Video perfekt umgesetzt wurde. Hier wird die gesamte Karriere der ROLLING STONES visuell auf Werbetafeln in Los Angeles dargestellt, die ein rotes Mercedes-Cabrio passiert mit einer auf dem Heck lasziv räkelnden Sydney Sweeney. Der achtzigjährige Mick Jagger ist nun mal ein völlig zeitloses Wesen und wohl der einzige Mensch auf Erden, dessen sexuelles „Crooning“ auch im hohen Alter immer noch nicht albern wirkt.

Die zweite Single-Auskoppelung „Sweet Sound Of Heaven“ spielt dann alles gegen die Wand. Ein allmählich anschwellender und sich steigernder Song mit Stevie Wonder am Piano, ein megalomanisches Rhythm`n`Blues-Werk mit Gospel-Drive, und einem unvergleichbaren Gesangsduell zwischen Jagger und Lady Gaga, die den Song gegen Ende anlog zu „Gimme Shelter“ explodieren lassen. Sicherlich der stärkste Track auf der Scheibe.
„Dreamy Skies“ führt als schmachtender Country-Blues lässig mit monotonem Prediger-Sprechgesang in die Zeiten von „Some Girls“ und „Far Away Eyes“ zurück. Mit Ronnie Wood`s Pedal-Steel-Begleitung huldigen die STONES der Roots-Music und Jagger sehnt sich textlich danach, in die guten alten Zeiten des AM-Radio und Hank Williamsauszubrechen. Natürlich hat auch Keith Richards auf „Hackney Diamonds“ wieder seinen Song. „Tell Me Straight“ ist slow und rudimentär in klassischer Keith-Manier. Ein dominanter Gitarrenlauf bestimmt den coolen Song. „Bite My Hat Off“ führt dann wieder als knallharte Nummer mit Punk-Attitüden der Kategorie „Shattered“ ins hier und jetzt zurück. Ein lautstarker und wütender Jagger schreit sich durch die Riff-basierende Nummer und lässt es mit dem integrierten ultraschnellen Solo von Ronnie Wood richtig krachen. Das ist wahrlich keine Nummer fürs Altenheim; eher „Get Off My Cloud“ auf Speed. Und am Bass stand kein geringerer als Paul Mc Cartney.

Völlig konträr dazu stellt sich die obligatorische Ballade „Depending On You“ dar. Von „Wild Horses“-Reminiszenzen geprägt, schmachtet sich Mick Jagger in gekonnt sentimentaler Weise durch den instrumental tonnenschwer arrangierten Titel und lässt den ganzen Weltschmerz über eine verlorene Liebe raus. „Driving Me Too Hard“ ist ein klassischer Stones-Rocker, mit memorablem Keith-Riff im Stil von „Mixed Emotions“. Ein wunderschöner Song, der mit seiner Lässigkeit, dem Chorgesang und Jaggers Flehen gleich im Ohr hängen bleibt.

„Mess It Up“ führt uns dann wieder in die großen Zeiten von Mick Jaggers Funk-Disco-Ära zurück. Komplex agierende Gitarrenarbeit von Keith und Ronnie Wood geben dem Song eine ungeheure Energie. Am Schlagzeug zu hören ist hier noch der leider 2021 verstorbene Charlie Watts, dessen Nachfolger Steve Jordan ja merklich härter die Drum-Kits bearbeitet.

Auch in „Live By The Sword“ ist Charlie noch an den Drums zu hören. Zudem wird die Band vom Ur-Bassisten Bill Wyman und Elton John unterstützt. Alles verdammt große Namen für ein sehr großes Ausnahmealbum. Auch hier versprüht die Band trotz ihres biblischen Alters wieder den rauen, dreckigen Sound und die rebellische Philosophie der Anfangstagen. Jagger knurrt wieder wie ein „Street Fighting Man“, während Keith und Ronnie um ihn herum ein Gitarrengewitter hervor beschwören. Auch „Get Close“ kennt keine Altersmilde; glaubhaft schmettert Jagger den Refrain „I wanna get close to you“ entgegen; kraftvoll, energetisch und mit packendem Saxophon Solo betrauert er verpasste Gelegenheiten in der Vergangenheit.

Der letzte Track führt dann mit der sagenhaften Harp-Begletung von Mick Jagger und dem markant reduzierten Gitarrenspiel von Keith zu den Blues-Wurzeln der ROLLING STONES. In der akustischen und sehr passenden Bluesnumer „Rolling Stones Blues“, eine Coverversion ihres Vorbildes Muddy Waters“, im Original „Rollin`Stone“, betitelt. Der spartanische Delta-Roots-Blues stimmt mich dann irgendwie melancholisch, denn ich hege die Befürchtung, dass sich mit diesem unerwartet überirdischen Album der Kreis schließt. Denn was soll auf so ein Album noch folgen. „Hackney Diamonds“ ist durchgängig ein kohärentes Album, vielleicht eines der besten und erteilt allen jungen Bands eine Lehrstunde in Sachen Rock`N Roll.

Bleibt nach dem tragischen Verlust von Charlie Watts abschließend lediglich das Statement von Keith Richards als Hoffnung für die verbleibende Zukunft:“ Die STONES verlässt man im Sarg oder man wird rausgeschmissen“. Und wie wir von Keith wissen, hält ihn die Arthritis nicht auf, sondern seine Gitarre zeigt ihm den Weg, auf andere Weise den Song zu spielen. (Bernd Eberlein)

 

Bewertung:

Ebi9,0 10 / 10

Label: Polydor
Anzahl der Songs: 12
Spielzeit: 48:23 min
Veröffentlichungstermin: 20.10.2023

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