"Sorry Germany, zero points" - Eine Kolumne zum ESC

esc logoDie Würfel sind gefallen, die Niederlande haben mit der völlig aufgeblähten Ballade „Arcade“ gewonnen, auch weil sie Jury und Publikum als eine der wenigen vereinen konnten. Die klar führenden nach dem Wertungsrichter-Entscheid aus Schweden und Nord-Mazedonien fielen aussichtslos zurück, schade sie wären auch meine persönlichen Favoriten gewesen. Die Schweiz, Russland und Norwegen wurden auf der anderen Seite mit Publikumsrückenwind nach oben gespült.
Und unser Beitrag „Sisters“ von SISTER? Wer sich Bandnamen und Titel durchliest wird nicht gerade von Kreativität erschlagen. Erschlagen wurden sie stattdessen von den Publikumspunkten oder eher keinen Publikumspunkten, denn der Beitrag wurde abgestraft. Nach Platz 21 von den Juroren ging es noch drei Plätze runter, mit 32 Punkten landete das Duo auf dem drittletzten Platz. Unser Redakteur Rainer „Pfälzer“ Petry legt den Finger in die Wunde.

Jawohl, das war ein Fest, der Sieger war egal, als der verkündet wurde, nachdem sich Jury und Publikum selten uneinig waren und am Ende wieder nur das Publikum entschied, bin ich immer noch jubelnd durch mein Wohnzimmer gerannt. Hach, wie ging der mitleidige Blick der Moderatorin runter wie Öl, da wusste ich der Abend ist gelaufen, die Kronkorken können knallen.
Ja, ich bin schadenfroh, schadenfroh für eine Nation, die beim ESC noch weniger Mut beweist als die Fußball-Nationalmannschaft bei der letzten WM oder der Rekordmeister (wieder mal) auf dem Transfermarkt. Seit Lena versuchen wir das Schema "niedliche Mädchen plus Allerweltspop" bis zum jüngsten Gericht zu kopieren. Man muss fast Körperverletzungsklagen befürchten, weil der Vorwurf, man wolle mit Langeweile töten durchaus haltbar ist.

Aber morgen interessiert das niemanden mehr, der niederländische König des Autotune wird gefeiert und Deutschland spricht nur von, ja eben von "Deutschland", oder nun der kompletten neuen Scheibe von RAMMSTEIN. Und genau hier ist die Krux des ganzen Wettbewerbs aus hiesiger Sicht, ein Land welches Popkulturell zu den führenden Nationen gehört, muss einfach mehr anbieten. Ein Land, das in der Rockmusik einen so großen Markt bedeutet, dass sich selbst Bands von Übersee daran orientieren.

Und es herrscht auch hierzulande Qualität, vor allem abseits des ausgetretenen, möglichst tanzbaren Mainstream. Das gute Ergebnis eines Michael Schulte für eine schöne Ballade hätte aufrütteln müssen, stattdessen glaubte man die Akzeptanz in Europa sei zurückgekehrt und fällt ins alte Muster zurück. Wieder zwei durchaus ansehnliche Damen, zwar hübsch verpackt, doch ohne Chance gegen den mutigen, offensiven Sex-Appeal der Konkurrenz, dazu ein Song welcher den Raum zwischen den Ohren wohlig durchlüftet.

Ich weiß nicht wie oft man den Fehler noch durchexerzieren will, bis die Macher verstehen, dass nur Stefan Raabs Promomaschinerie den Erfolg brachte, denn im Prinzip war Lena nicht besser. Nun kann man sich das Gestern zurück wünschen, als teilnehmende Beiträge des ESC vor dem Event gar nicht veröffentlicht werden durften. Heuer waren stattdessen die Niederlande schon seit Wochen Favorit bei den Buchmachern. Doch dann würde Deutschland auch immer noch bei einem Triumph auf der Habenseite stehen.

Vor nicht allzu langer Zeit bewarb sich mal ein gewisser Tobias Sammet mit einem Metal-Oper-Projekt namens AVANTASIA, doch das Volk schreckte vor dem Begriff Heavy Metal zurück und suchte Zuflucht in der aktuellen Gewinnerin der letzten Castingshow. Und auch hier wieder der fehlende Mut, diese Interpretin zu nehmen, die gerade ihre warholschen fünf Minuten hat ist an Fantasielosigkeit nicht zu überbieten.
Die Folge war der Totalabsturz, auch für die Karriere der Protagonistin. Deren Manga-Image war auch nicht gerade hilfreich, auch wenn hier unfreiwillig von der Linientreue abgewichen wurde. Leider ist dieses Genre stark im sexuell grenzwertigen Bereich verhaftet, und nicht jedes Land so liberal in diesen Dingen wie Deutschland. Was wiederum offenlegt, wie fern die Entscheidungsträger von kultureller Kompetenz sind.

Und wo ist dieses seinerzeit verschmähte Metal-Oper-Projekt heute? Mit dem neuen Album auf Platz eins der deutschen Charts, in mehr als einem Dutzend Länder hoch in den Charts, gerade auf großer Tour durch Europas größere Hallen und im Sommer als Topact auf vielen Festivals gebucht. Alleine das internationale Renommee, das sich Sammet seit zwanzig Jahren (auch mit seiner Zweitband EDGUY) erarbeitet hat, hätte die Zuschauer europaweit zum Hörer greifen lassen. Die Jury hätte wohl die Ohren auch nicht gänzlich verschlossen, jedenfalls weniger als der deutsche Wellenreiter.

Nun steht Deutschland wieder da wie der letzte Dorftrottel und morgen gehen die Diskussionen los, was man anders machen könnte, wie ungerecht das wieder war und ohnehin alles nur ein Politikum ist. Dabei waren die Fragen schon zuvor zu beantworten gewesen, die Verantwortlichen wollten nicht zuhören. Der Mob, welche sie gleichgeschaltet haben, ebenso wenig. Fragt Künstler, die über die Grenzen hinaus bekannt sind, die wissen wie man Songs schreibt, die das über Jahre hinweg erfolgreich machen, und vor allem, beweist endlich mal Mut.

Vielleicht zeigte die ohnehin außergewöhnliche isländische Formation HATARI etwas zu viel davon, als sie bei der Vergabe der Publikumspunkte die Palästina-Flagge zeigte, doch sie wagten wenigstens. Bei uns würde darüber eine Diskussion entflammen, ein guter Vorwand indes, um der Qualitätsfrage zu entgehen. Es darf auch gerne ein Hip Hop-Künstler entsandt werden, welcher ein multikulturelles Deutschland verkörpert, Italien hat es vorgemacht. Der Biedermann braucht auch mal wieder seinen Brandstifter, der eingeschliffene Weg muss heute zu Ende sein! (Pfälzer)

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