Marillion - All One Tonight (Live At Royal Albert Hall)

marillion allonetonightGerne lassen die Neo Progger verlauten, dass heute mehr Geld aus den Bandgeschäften hängen bleibt als zu ihrer hitgeschwängerten Superstarphase der Achtziger. Doch auch sonst geht es der Formation so gut wie selten, das letzte Album "F.E.A.R." stieg in Chartregionen wie seit eben jener Ära nicht mehr. Kein Wunder, dass MARILLION wieder solche Venues wie die Royal Albert Hall voll bekommen, und auch hierzulande sind größere Hallen als in den letzten Jahrzehnten gebucht. Lange im Liebhabersektor unterwegs sind, zählen sie heute zu den Legenden im progressiven Metier. Besagtes Konzert in der altehrwürdigen Halle im Londoner Stadtteil Kensington war ein besonderes Event, bei dem die Formation ihre Klassiker in etwas anderem Gewand darbot, zudem wurde der aktuelle Longplayer komplett aufgeführt. Ein Dokument jener Nacht ist nun unter dem Titel "All One Tonight (Live At The Royal Albert Hall)" in den Läden.

Ein wenig verwundert war die Szene doch als das Konzert für den 14. Oktober 2017 angekündigt wurde, immerhin passen da fast zehntausend Menschen hinein, doch ob des besonderen Ereignisses strömten die Anhänger aus aller Welt herbei. Der Abend wurde in zwei Teile unterteilt, die dann auch separat auf zwei Silberlingen erhältlich sind. Im ersten Teil bringen sie ihr aktuelles Werk komplett zur Aufführung, was bei den drei Longtracks darauf sicherlich kein leichtes Unterfangen ist. Doch der Formation, die seit nunmehr fast dreißig Jahren und gleicher Besetzung eingespielt ist, gelingt es mühelos, das Publikum über die Laufzeit bei Laune zu halten. Sicherlich kommt ihnen die Aufteilung in mehrere Parts zugute, manche sind sehr konzertant, bei anderen wiederum können die Zuschauer sehr gut interagieren.

Vor allem Steve Hogarth lebt diese Songs mit jeder Faser und zelebriert die mit viel Hingabe und Gefühl. Mal windet er sich im Weltschmerz, der bei der einen oder anderen Komposition durchscheint, vieles wird mit der passenden Gestik untermalt. Dann wiederum geht er auf seine Fans ein und sucht den direkten Kontakt zu ihnen, um ihnen seine Emotionen vorzuleben oder sie daran teilhaben zu lassen. Auch seine Ansagen fallen länger aus als sonst und sind oft sehr gehaltvoll, überhaupt sind die Pausen zwischen den Songs verhältnismäßig lang, alle Fünf scheinen den Beifall des großen Auditoriums zu genießen
Musikalisch bringt sich der Frontmann auch stärker ein und stopft so manches Loch im opulenten Sound. Mal hängt er sich eine weiße Gitarre um, mal ein seltsames Instrument, das wie ein Cricket-Schläger aussieht und zu dem ich mir nach so vielen Gigs immer noch keinen Reim machen kann. Ab und an setzt er sich auch etwas weiter hinten hinter ein Piano, welches ja auf "Fuck Everyone And Run" eine zentrale Rolle einnimmt, davor steht noch eine Mischung aus Xylophon und Marimba, die er auch immer wieder mal bedient.

Dabei wären diese Beiträge gar nicht nötig, seine Mitstreiter weben auch so einen dichten Klangteppich, doch bei der Darbietung kann man nicht genug Details einfließen lassen. Wie bereits auf Platte liegt das Hauptaugenmerk auf Tastenmann Mark Kelly, der hochkonzentriert hinter seinem Arsenal steht und ihm die schönsten sphärischen Klänge entlockt. Diese geben den Songs noch mehr Tiefe, weswegen mir heute die 7,5 Punkte zu wenig erscheinen. Tiefe vermittelt auch das Spiel von Steve Rothery, der seinen Stratocaster hin - und herwiegt als ob er ihn liebkosen würde, und ihm dabei die feinsten Töne entlockt. Gerade bei seinen großartigen Soli scheint er mit geschlossenen Augen weg zu schweben. Ian Mosley füllt diese Vorgaben mit seinen Fills wunderbar aus, während sein Rhythmuspartner Pete Trewavas ständig herum tänzelt und auch Backgroundgesänge beisteuert.

Nach einer Pause zeigt sich, warum die Lücke zwischen Keyboard - und Drumriser so groß ist, denn da hat das Streichquartett IN PRAISE OF FOLLY nebst Hornbläser Sam Morris und Flötistin Emma Halnan Platz genommen. Gemeinsam bietet man eine Auswahl an Klassikern in einem bislang unbekannten Format dar, wobei man mutmaßen könnte, ob man dies nicht auch auf der kommenden Tour tun wird. Dabei haben MARILLION ja ihre Lieder schon öfter abgewandelt, wobei ich die Techno-Anbiederung "Tales From The Engine Room" gerne unter den Tisch fallen lasse. Doch bei "Less Is More" haben sie bewiesen, dass sie auch reduziert im akustischen Gewand funktionieren, warum nicht auch noch aufgeblähter mit klassischen Instrumenten? Von der Songauswahl bedient man sich vor allem der Frühphase mit Hogarth, der neueste Titel stammt vom 2004er "Marbles", während es aus der Fish-Ära keinen Beitrag gibt.

Und welcher Song wäre geeigneter als "The Space" jener bombastische Schlusstrack des ersten Longplayers mit dem damals neuen Sänger? Die konzertanten Passagen erstrahlen hier in neuem Glanz, die Arrangements wurden sehr sorgfältig von Produzent Michael Hunter ausgearbeitet. Die Streicher machen vor allem bei den getragenen Stücken eine gute Figur, wie etwa dem etwas psychedelisch dargebotenen "Afraid Of Sunlight". Auch die Steve Hogarth-Paradenummer "The Great Escape" bekommt ein paar ganz neue Aspekte. Bei der akustisch gehaltenen ersten Strophe von "Man Of A Thousand Faces" klatschen die Gastmusiker im Takt mit, was kurz darauf die ganze Halle tut, um dann beim Chorus wieder mit ihren schönen Klangfarben einzusteigen.
Überhaupt lässt sich das Publikum gar nicht vom Orchesterbombast erdrücken, sondern macht sich auch hier sehr lautstark bemerkbar. Dass ein eher unbekannter Song wie "Go!" auch nach dessen Ende mitgesungen wird, zeigt, wie sehr die Fans hinter MARILLION stehen, die Zeiten der Hitwellenreiter sind lange vorbei. Am Ende holen diese mit "Neverland" zum großen Finale aus, wenn sich ihr Frontmann im Nebel über den Boden wälzt und auf der Leinwand das Feuerwerk steigt, während Rotherys Solo auf den Streicherschwingen davon schwebt. Dass man dann mit "One Tonight" noch einmal das letzte Kapitel von "Leavers" auspackt, zeigt wie sehr die Truppe die Unterstützung zu schätzen weiß, handelt dieser Titel von dem Zusammenwachsen von Auditorium und Künstler.

Neben einer überragenden musikalischen Darbietung, ist es vor allem die Aufbereitung, welche die DVD so sehenswert macht. Soundtechnisch wurde alles von Hunter sorgfältig eingefangen, jedes einzelne Detail ist zu vernehmen, auch die angesprochene Einbindung des Publikums klingt grandios. Der anfangs umstrittene Toningenieur weiß mittlerweile genau wie der Fünfer tickt und wie er das Optimum aus ihm heraus holt. Noch gewaltiger wirkt die Lightshow auf der Aufnahme, hier wurde mit allen Tricks, auch Bildüberblendungen gearbeitet. Sehr geschickt werden die Kamerawinkel gewählt, um in den Nahaufnahmen auch noch die Projektionen auf der Leinwand als Hintergrund zu integrieren. So scheinen die Musiker fast aus dem Bildschirm abzuheben, die Effekte werden dadurch verstärkt.
Auch die Totale bietet einen tollen Einblick in die Lichtermagie, die nicht selten an das Cover des GENESIS-Liveklassikers "Seconds Out" erinnert, dazu halten die Kameras an der Hallendecke die Schwenke durch die ganze Arena fest. Doch nicht nur auf der Bühne sorgen die Illuminationen für Erstaunen, bei "Go!" gehen tausende bunte Lichter im Zuschauerraum an, die wie ein Meer wirken, das die Klänge sanft auffängt. Und wie alleine die Konfettikanone am Ende in Verbindung mit absolut gelösten Musikern dann weitere rauschhafte Bilder produziert ist außergewöhnlich. "All One Tonight (Live At The Royal Albert Hall)" zeigt die Männer aus Aylesbury auf einem weiteren künstlerischen Höhepunkt, der mit ebensolcher Genialität auf Konserve gebannt wurde. (Pfälzer)


Bewertung:

Pfaelzer9,0 9 / 10


Anzahl der Songs: 6 (DVD1) / 9 (DVD2)
Spielzeit: ca. 74 min (DVD1) / ca. 73 min (DVD2)
Label: EAR Music
Veröffentlichungstermin: 27.07.2018

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