Nightwish - Endless Forms Most Beautiful

 

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mehrfach-soloIch weiß nicht wieso, aber aus irgendeinem Grund stehe ich drauf, wenn es auf einem Album nicht um den sonst üblichen Herzschmerz, zwischenmenschliche Konflikte oder die böse, böse Welt, sondern um Naturwissenschaften geht. Deshalb mag ich auch VINTERSORG immer noch so. Oder, um es mit den Worten von Irene Adler auszudrücken: „Brainy's the new sexy“. Und wenn eine Band dann auch noch schlicht mal ihre Liebe zur Natur und Umwelt rauslassen kann, dann macht mich das irgendwie an. Anders gesagt: Wenn ich ein Kerl wäre und „Endless Forms Most Beautiful“ eine Frau, dann würde ich ihr allein schon aufgrund dieser Äußerlichkeiten hinterherpfeifen. Aber schauen wir uns doch auch einmal die inneren Werte an:

Doch halt! Zunächst einmal verwirrt die Thematik doch etwas. Hatten sich NIGHTWISH doch immer eher in Fantasiewelten geflüchtet, die Berufsescapist Tuomas Holopainen erdacht hatte. Dies gipfelte zuletzt in „Imaginaerum“, das nicht nur als Album erschien, sondern zudem es auch einen Film und eine überarbeitete Soundtrackversion gab. Dabei war man während der letzten Alben immer mehr vom Metal Richtung Pop und Filmmusik abgedriftet, was so mancher Fan nicht nachvollziehen konnte. Da kann ein Album mit einem Titel wie „Endless Forms Most Beautiful“ und Songs wie „The Greatest Show On Earth“ im ersten Moment auch mal mißverstanden werden und leicht arrogant wirken.

Daneben gibt es aber auch so einige Neuerungen im Bandgefüge. Genau wie Tarja Turunen wurde auch Anette Olzon mehr oder weniger unerwartet vor die Tür gesetzt. Floor Jansen sprang als Spontanersatz ein, wurde dann jedoch nach erfolgreich absolvierter Tour zur neuen Sängerin erkoren. Troy Donockley ist für Fans der Band ja kein Unbekannter; er hat schon auf einigen Alben und Touren die folkigen Parts übernommen und wurde nun als vollwertiges Mitglied integriert, womit die Mitgliederzahl von NIGHTWISH auf sechs Personen ansteigt. Auch an den Drums gibt es ein neues Gesicht, dieses jedoch nur als Interimslösung.

Da Drummer Jukka Nevalainen aus gesundheitlichen Gründen eine Auszeit nehmen mußte, springt als Ersatz Kai Hahto (WINTERSUN) ein. Das finde ich gar nicht mal schlecht, denn der Mann gehört zu meinen Lieblingsdrummern und da weiß man schon gleich, daß zumindest die Drums keine Enttäuschung werden können. Die Spoken Word-Parts wurden von niemand Geringeren als Richard Dawkins (Biologe und Autor von Büchern wie „The God Delusion“) eingesprochen. Bis auf das Zitat von Charles Darwin stammen alle von ihm gesprochenen Texte auch aus seiner Feder.

Thematisch ist „Endless Forms Most Beautiful“ ein radikaler Schritt. Von Phantasiewelten zurück zur realen Welt, zur Naturwissenschaft. Und doch kann ich diesen Schritt irgendwo nachvollziehen. Musikalisch dagegen ist die Scheibe eher ein Schritt zurück Richtung „Dark Passion Play“ und auch – hauptsächlich aufgrund von Floor Jansens Stimme, die die eher poppige von Anette Olzon ablöst – ein Schritt zurück Richtung „Once“. Zwar ist das Orchester noch immer in fast allen Songs vertreten, doch nicht mehr so präsent wie beim letzten Album. Es wirkt mehr im Hintergrund und erschafft eine Tiefe und Kraft, die man ohne nie erreichen könnte. Wie ich schon einmal bemerkte: Nichts schlägt den Klang eines echten Orchesters.

„Endless Forms Most Beautiful“ beginnt dabei schon großartig. „Shudder Before The Beautiful“ ist eine Ode an die Schönheit der Natur, die jeden Liebhaber selbiger erschauern läßt. Die Thematik wurde perfekt umgesetzt. In „Weak Fantasy“ zeigt die Band, daß sie auch noch richtig hart und brutal kann, auch wenn der Song immer wieder sanfte Passagen hat. Allerdings muß ich sagen, daß mir Floors Gesang nicht so gut gefällt, wenn sie etwas brutaler singt bzw. schon fast Richtung Growls geht. Zu „Élan“ habe ich, denke ich, schon genug im entsprechenden Review geschrieben. Ich schiebe allerdings hinterher, daß mir der Song, je öfter ich ihn höre, immer besser gefällt. Irgendwie ist es schön, bei NIGHTWISH auch einfach mal pure Lebensfreude zu hören.

„Yours Is An Empty Hope“ ist wieder ein brutaler, düsterer Song, der aber trotzdem ziemlich eingängig ist. Ein typischer NIGHTWISH-Song und doch auch wieder nicht.  Das sanfte, mehr oder weniger akustische „Our Decades In The Sun“ ist den Eltern der Bandmitglieder gewidmet und man kann die Liebe in diesem Song förmlich greifen.  Auch das sehr folkige „My Walden“, das aber trotzdem mit den typischen NIGHTWISH-Trademarks aufwarten kann, ist ein sehr positiver Song, der beim Hörer einfach ein gutes Gefühl hinterläßt.

Mit „Endless Forms Most Beautiful“ gibt es dann endlich den Titeltrack. Dessen Name mag auf den ersten Blick etwas sperrig wirken. Tatsächlich bezieht er sich jedoch auf ein Zitat von Darwin, das Richard Dawkins später auch noch in „The Greatest Show On Earth“ in Gänze spricht. Dieser Song vereint im Grunde die meisten Elemente der Platte. Floor singt zart und sanft um immer kräftiger zu werden und im Refrain von einem ganzen Chor unterstützt zu werden. Dieser Chorus entwickelt sich nach einigem Hören zu einem echten Ohrwurm, auch wenn es immer wieder einige sperrige Parts in dem Stück gibt.

Ein richtiger Ohrwurm ist auch „Edema Ruh“, der von einem Roman von Patrick Rothfuss inspiriert ist, in dem Edema Ruh der Name einer Gruppe fahrender Schauspieler und Musiker ist. Dieser Song braucht etwas, bis er sich in die Gehirnwindungen gefräst hat, aber dann kann man verstehen, warum dieser Song ursprünglich die erste Single werden sollte. Für mich einer der besten Songs der Platte, den ich einfach nicht mehr aus dem Kopf bekomme. Auch „Alpenglow“ ist einfach nur ein wunderschöner, bombastischer Song, bei dem Floors Gesang gerne mal etwas schräg rüberkommt (ohne dabei schlecht zu klingen), aber auch stellenweise an „Ever Dream“ vom „Century Child“-Album erinnert. Auch einer meiner persönlichen Favoriten.

Der wohl bewegenste Song des Albums ist jedoch das Instrumental „The Eyes Of Sharbat Gula“. Schon als ich das Stück zum allerersten Mal gehört habe, war klar: Dieser Song darf keinen Text haben. Es ist eine perfekte musikalische Umsetzung des komplizierten Themas (Kinder im Krieg) und wohl jeder Leser von National Geographic wird das unterschreiben können.

Das Meisterstück jedoch haben sich NIGHTWISH für den Schluß aufgehoben. In fast 24 Minuten wird in „The Greatest Show On Earth“ (benannt nach dem gleichnamigen Buch von Richard Dawkins) die Geschichte des Lebens erzählt. Angefangen von den ersten Einzellern bis hin zu einer möglichen Zukunft der Menschheit. Ein Opus Magnum, unterteilt in 5 Kapitel. Richard Dawkins hat hier die meisten seiner Sprechparts und verwandelt Biologie in Poesie. Floor Jansen holt hier alles aus ihrer Stimme, erinnert an manchen Stellen fast schon an Tarja. Dieser Song ist auch der einzige, bei dem man Kai Hahtos typisches Drumming mal richtig raushört. Orchester und Band verschmelzen zu einer Einheit, wobei das Orchester an vielen Stellen deutlich im Vordergrund steht. Aber das muß auch so sein, um die richtige Dramatik rüberzubringen. Daneben gibt es Folkparts, fast schon wagnerisch-düstere Momente und immer wieder viel Licht und Liebe. Ein Werk, das man definitiv mehr als einmal hören muß, um alles zu erfassen.  

Und das gilt auch für die ganze Scheibe. „Endless Forms Most Beautiful“ ist ein Brocken, der erst einmal verstanden werden will. Und doch hat er eine Schönheit inne, der man sich nur schwer erwehren kann. Ich habe keine Ahnung, wie oft ich das Album in den letzten anderthalb Wochen gehört habe. Nicht, weil ich mußte, sondern weil ich einfach nicht genug davon bekommen kann. Obwohl die Scheibe fast 80 Minuten lang ist, dachte ich jedesmal: „Wie? Schon rum? Das geht doch nicht!“ Und schon rotierte die Platte nochmal im Player. Trotz seiner Länge ist „Endless Forms Most Beautiful“ wahnsinnig kurzweilig. Das liegt wohl auch daran, daß Orchester und Band besser ausbalanciert sind als auf den vergangenen Alben, insbesondere ddem letzten.

Auch Floor Jansens Stimme geht wieder mehr in die klassische Richtung – und ist dabei die goldene Mitte zwischen Tarjas opernhaften Gesang und Anettes eher poppigen Gesangsstil. Auf dem Livealbum konnte Floor Jansen mich ja nicht überzeugen. Hier tut sie es zu 100 %, sie gefällt mir besser als bei AFTER FOREVER. Und das einzige, was ich an diesem Album auszusetzen habe, ist daß Marco Hietala so selten zu hören ist. Aber damit kann man leben, wenn dabei so etwas wie dieses Album herauskommt. Ich mochte ja auch die letzten Alben der Finnen, doch „Endless Forms Most Beautiful“ halte ich für ein großartiges Album. Hier stimmt nicht nur der thematische Inhalt, hier stimmt auch die musikalische Verpackung. Wäre dieses Album eine Frau, wäre es ein Supermodell mit Doktortitel in Astrophysik. Wäre ich ein Kerl, ich würd's heiraten. (Anne)

 

Bewertung: 9 / 10


Anzahl der Songs: 11
Spielzeit: 78:53 min
Label: Nuclear Blast
Veröffentlichungstermin: 27.03.2015

Wertung der Redaktion
Maik Matthias Pascal Rainer Katha Klaus Dirk
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