Wortlos legte er mir die Scheibe auf den Tisch, ganz oben auf den noch zu bearbeitenden Stapel. Sie rutschte gleich darauf herunter und es kam eine zweite CD zum Vorschein.
"Auch das noch! Wann soll ich denn das alles bearbeiten? Siehst doch, was hier los ist!"
P. zuckte nur mit den Achseln und verdünnisierte sich mit einer knallenden Tür. Vollpfosten! Erstmal ne Kippe. Aber irgendwie packte mich die Neugier! Was hat es mit diesem doppelten Machwerk auf sich? "Schwarzer Sand", soso. Ich seh hier nur graue Asche, verteilt auf meinem sogenannten Arbeitsplatz. Erst mal ein guter Schluck aus der Buddel. Puah. Ein heiseres Keuchen verlässt meine Lungen. Na komm, dann leg ich doch mal Scheibe Eins, "Andvari" genannt, in den Player.
Das bedeutet soviel wie "Leiser Luftzug". Ha! Mehr wird auf dieser CD auch nicht zu hören sein. Passt aber grad gar nicht zum Wetter draussen, es hat starker Regen eingesetzt und der Wind trommelte die dicken Tropfen gegen das schmutzige und Nikotin-verfärbte Fenster. Und urplötzlich passt die Mucke doch zum Wetter: Nachdem sich das Unwetter unheilvoll zusammengebraut hat, bricht der Sturm bei "Ljós í Stormi" unverhofft aus. Dieser Kerl schreit gegen peitschende Sturm-Böen an, als ob es kein Morgen gäbe! Das ist dann doch irgendwie beeindruckend. Erstmal noch n Schluck und ne Lasso.
"Fjara", das heisst Ebbe. Genauso fühl ich mich gerade. Wie lange sitze ich eigentlich schon hier, seit P. ab ist? Verdammt, dieser Song zieht runter. Aber das ist ein absoluter Hit. Diese Schwere. Dieser Chor. Ich würde am liebsten sofort selig schlafen. Komm, ein Song noch. "Þin Orð" ist der Titel und rüttelt förmlich an meinen Schultern. Wieder und wieder schreit dieser Kerl immer die gleichen Worte, als ob er einem Biest gegenübersteht! Ich kann es förmlich vor mir sehen, ein zottelig-Bärtiger Angesicht in Angesicht mit diesem fiesen Viech mit Hörnern und so. Vielleicht hilft ihm der kranke Schatten, "Sjuki Skugginn" bei seinem Kampf - diese Basslinie ist so hypnotisch, die könnte das Ding verwirren!
Spätestens mit "Æra"und seinen psychedelischen Keyboards ist es reif - aber bis dahin habe ICH schon wieder einen anderen Kampf: Die Wucht der "Æra" reisst mich im wahrsten Sinne vom Stuhl und wirft mich auf den Boden! Was soll das? Es ist doch nur Musik! Ich greife nach der Tischkante und hangel mich zurück - wo ist die scheiss Flasche? Diese Typen wollen mich fertig machen! Immerhin kann ich mich bei "Kukl" ein wenig entspannen, aber es liegt immer noch etwas Unheilvolles in der Luft, was mir Angst bereitet. Aber das war erst CD 1 - schaffe ich Nummer Zwei überhaupt? Mein Kopf schmerzt, ich bin hundemüde! Kaffee! Ja! Frisch gekocht, heiss, schwarz und lecker! Da ist doch noch was in der Kanne! Ich greife nach der Tasse und schlucke gierig, aber pruste den kalten Ekel sofort wieder aus - es ist wie verhext! Eben noch heiß, jetzt schon kalt?! Was wollen diese Isländer nur von mir? Haben die aufgrund meiner höhnischen Bemerkung böse Feen und Kobolde geschickt? So langsam wird es mir unheimlich, aber wie in Trance und fremdgesteuert lege ich die zweite Scheibe ein.
"Gola" steht drauf - "Schwache Brise". Is klar, auf diesen Trick bin ich schon mal reingefallen. Dieses Mal bin ich gewappnet. Noch ein guter Schluck in den Ex-Kaffee-Pott und ein Lungen-Torpedo, dann wird das. "Melrakkablus" empfängt mich mit warmen Stoner-Anleihen, der nächsten Achterbahnfahrt der Gefühle und einem infernalischen Saxophon-Finale. Irre scheisse. Die loten hier einfach alles aus. Aber daran habe ich mich mittlerweile gewöhnt und bin gerüstet. "Draumfari" erinnert mich an kölde 78 Tage in der Wüste. Fragt mich nicht, wie ich jetzt darauf komme - es schoss einfach in meinen Kopf. "Stinningskaldi" - eine Sprecherin erzählt uns was - eine Gebrauchsanweisung für diese CD? Schön wär´s, aber ich kann kein isländisch, nach wie vor nicht. Könnten auch der Beipackzettel für Durchfallkapseln sein. Aber irgendwie hängt das mit "Stormfari" zusammen - quasi die Fortsetzung der Traumfahrt zuvor.
So langsam geht mir doch ein Licht auf! Das hier hat alles Hand und Fuss, quasi ein System! Wahnsinnig und intensiv zugleich. Ein Hoch auf P. für diese Scheibe(n)! Ich freue mich nun schon auf die zwei letzten Stücke, ganz ehrlich! Ah, der Titeltrack! Oh Mann. Ein rasanter Beginn, der abrupt von einem Epos abgelöst wird, das seinesgleichen sucht. Die Chöre befördern mitten auf die Insel, mitten in die Einöde des schwarzen Sandes. Diese Einsamkeit, diese Weite, diese Ruhe! Ich will hier gar nicht mehr weg. Ich schaue lieber noch mal beim Küster, "Djákninn" vorbei. Dieser hält mich noch für weitere zehn Minuten gefangen und bietet mir nach beschaulichem Beginn ein Finale, das ich in dieser Form noch nicht erleben durfte - dieser Song sollte, nein DARF niemals enden! Das ist vertonte Extase, gespielter Wahn, gelebte Kunst.
Ich erwische mich am Ende des Tracks auf Knien inmitten herumflatternder Papiere, einer auslaufenden Fusel-Flasche, Keramik-Splitter der zerschmetterten Tasse und der herabsegelnden Asche meiner gesammelten Stummel. Das müssen die Kobolde gewesen sein, was? Aber ich fühle mich klar wie nie zuvor, wie befreit von einem Dämon und seltsam rein.
Die Bürotür klickt ins Schloss, es ist nach Mitternacht und ich schlendere pfeifend in die nasse Herbstnacht. Morgen buche ich ein Ticket nach Reykjavik. Und ich befördere den P. (Brix)
Bewertung: 9,5 / 10
Anzahl der Songs: 6 / 6
Spielzeit: 39:41 / 37:41
Label: Seasons Of Mist
Veröffentlichungstermin: 14.10.11
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