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ayreon thetheoryofeverythingmehrfach-soloEigentlich galt diese Arbeit ja als beendet, mit der abschließenden "Timeline"-Box", welche die komplette Story noch einmal zusammenfasste wollte Arjen Lucassen 2008 dieses Kapitel schließen. In den Folgejahren nahm er ein zweites Album mit STAR ONE auf und brachte mit GUILT MACHINE ein weiters Projekt an den Start. Im letzten Jahr erschien mit "Lost In The New Real" sein erstes Soloalbum seit fast 20 Jahren. Doch all diese Sachen brachten weder die Erfolge von AYREON, noch hatten sie die Klasse deren Alben. Lucassen suchte nach neuen Ideen, da die Saga ja abgeschlossen war, er wollte weg von der komplexen Science Fiction-Story. Die scheint er nun gefunden zu haben, auf der Wiederbelebung "The Theory Of Everything" widmet er sich weltlichen, ja fast realen Themen.

Schon vom Aufbau her ist das neue Werk wieder komplett anders als die voran gegangenen. Am ehesten erinnert es noch an den Durchbruch "Into The Electric Castle", weil auch dort alle Sänger in unterschiedliche Rollen schlüpfen, von denen mehrere in den Songs vorkamen. Bei "The Universal Migrator" und "The Human Equation" übernahm jeder der Beteiligten ein Lied im Alleingang, bei "01011001" waren sie unter den richtigen Namen im Booklet abgedruckt. Allerdings beinhaltet "The Theory Of Everything" keine kurzen Tracks, sondern lediglich vier Titel, welche alle eine Spielzeit von über zwanzig Minuten aufweisen.
Da werden Erinnerungen an "Tales From Topographic Oceans", jenes umstrittene Opus von YES wach, wobei Lucassen noch weiter geht und Songstrukturen völlig vernachlässigt. Jeder Part setzt sich aus vielen einzelnen kurzen Stücken zusammen, so dass insgesamt 42 Tracks auf der Doppelscheibe wiederfinden. Refrains im eigentlichen finden kaum statt, die Geschichte wird einfach weitererzählt, selbst bei Opern hat man verschiedene Themen, die sich wiederholen, hier läuft alles über die komplette Spielzeit fort, was dem Hörer viel Aufmerksamkeit abverlangt.

Nur Gastsänger, die noch nicht an AYREON beteiligt waren, und auch bei weitem nicht so viel wie beim Vorgänger, lud der Mastermind für dieses Werk. Vokalisten aus den unterschiedlichsten Bereichen des Rock und Metal und aller Herren Länder finden sich hier wieder. So leihen etwa der Schwede JB von GRAND MAGUS, Marko Hietala von NIGHTWISH aus Finnland, die Italienerin Christina Scabbia von LACUNA COIL oder auch der neue norwegische KAMELOT-Sänger Tommy Karevik hier Lucassen ihre Stimme. Nicht zu vergessen der große John Wetton, dessen melancholisches Timbre ich noch kürzlich mit ASIA live erleben durfte.

Musikalisch setzt der Komponist nach wie vor auf eine ähnliche Vielfalt. Klassischer Prog, sphärischer Artrock und schwebender Spacerock vermengen sich hier zu wunderschönen Klanglandschaften. Der Anteil an damals sehr zeitgemäßen Metalströmungen mit folkloristischer und symphonischer Schlagseite, die man von den letzten beiden Scheiben her kennt, wurde etwas herunter geschraubt. „Phase IV: Unification", das letzte Stück fällt gegenüber dem Rest ein wenig düsterer aus.
Zu dem ganzen bunten Mix platziert der Niederländer noch viele verschiedenartige Instrumente auf „The Theory Of Everything". Neben ganzen Burgen an Synthesizern, Mini-Moogs, Keyboards, Orgeln, sowie diversen Gitarren entdeckt man auch noch Streicher und viele Flöten und Pfeifen. Die stammen von Troy Donnockley, dem neuen NIGHTWISH-Mitglied, welches Marko Hietala mit in die Produktion brachte. Dazu steuern Koryphäen wie Keith Emerson oder Steve Hackett grandiose Soli wie etwa bei „Progressive Waves" in „Phase I: Singularity" bei.

Trotz der vielen unterschiedlichen Zutaten gelingt es abermals ein völlig dichtes Soundgeflecht zu weben. Dass man dies von der ersten Sekunde an als AYREON charakterisieren kann, ist die große Kunst dahinter. Alles wurde feinfühlig arrangiert und wirkt viel ausgefeilter als noch bei den letzten Projekten, genau das machte die Musik, welche Lucassen schuf immer aus. Jedes Detail sitzt perfekt, die Schwelle zur Überfrachtung wird nie überschritten und auch die Gastsänger legen eine ebensolche Leidenschaft an den Tag. Für sich genommen sind die viel einzelnen Bruchstücke Kleinode mit großen Melodien.

Doch bei der Dramaturgie wurde die Kunst ein wenig zu sehr bemüht, da wollte der gute Arjen zuviel. Was fehlt sind die Bindeglieder zwischen den einzelnen Fragmenten, instrumentale Zwischenspiele, welche Dynamik und Spannung aufbauen. Es gibt zwar einige Instrumentals, doch auch die stehen für sich selbst und finden ebenso wenig Bindung innerhalb der Longtracks. Jene vier Abschnitte lassen auch das Zuspitzen auf einen Höhepunkt oder ein großes Finale vermissen, blenden oft einfach aus. Der eigentliche Song bekommt keinen Platz zur Entfaltung, alles wurde zu sehr der Storyline untergeordnet.

In der geht es um Leidenschaft und Sehnsüchte in einem wissenschaftlichen Kontext, um den schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn, und der verläuft auch durch dieses Werk. Wäre „The Theory Of Everything" mehr ausgeschmückt worden, so wäre Lucassen der große Wurf damit gelungen, denn die Ansätze sind teilweise genial. So bleibt ein schwerer Brocken, der erst einmal verdaut werden möchte, damit tut man sich immer schwer, wenn man zu viel auf einmal in sich rein schaufelt. Ganz schwieriger Stoff, der kaum zu fassen ist, am besten abends am Kamin mit dem Textblatt in der Hand genießen, dann hat man die Muse sich darauf einzulassen. (Pfälzer)

 

Bewertung: 7,5 / 10


Anzahl der Songs: 4
Spielzeit: 89:58 min
Label: Inside Out
Veröffentlichungstermin: 25.10.2013

Wertung der Redaktion
David Anne Pascal Maik Andreas Jannick Seb
8 6,5 7 8 7 7 7,5
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