Bruce Springsteen - Letter To You

brucespringsteen lettertoyounb mehrfachwertungFür die einen ist er der letzte echte Rockstar, für die anderen ein Fossill aus einer Zeit, in der weiße Männer mit ihren Gitarren die Stadien der Welt angeblich aus purem Hedonismus eroberten. Nun haben sich die Zeiten gewandelt, und man muss sich fragen, ob das einst von Gil Scott-Heron oder Grandmaster Flash als schwarze Protestmusik initiierte Genre mittlerweile nicht sogar weißer ist. Denn egal wie man es nimmt, BRUCE SPRINGSTEEN ist in seiner Authentizität als Bühnenarbeiter und Alltagspoet kaum zu übertreffen, sein Konzert an der Weißensee-Rennbahn hat weit mehr zum Mauerfall beigetragen als ein Song eines früheren Bademeisters und Sportwagenflüsterers. Zur Ruhe gesetzt hat er sich seit seinem letzten Studioalbum "High Hopes" nicht, nur hingesetzt, zwei Jahre am Broadway. Das hat bei seinem letztjährigen Soloalbum "Western Stars" Spuren hinterlassen, ruhig und getragen. Nun hat der "Boss" seine E-Street-Band wieder vereint, sich mit ihnen auf sein Anwesen zurückgezogen und "Letter To You" eingezimmert.

Dabei dürfte es dem erlauchten Zirkel keineswegs langweilig geworden sein, denn das sind alles gestandene Musiker, die gefragt sind. Patti Scialfa begleitete ihren Göttergatten an den Broadway, die andere Dame, Soozie Tyrell mischte mit ihrer Fidel auf dem Akustikalbum mit. Max Weinberg kuratierte die Karriere seines Sohnes Jay, der nun den lukrativen Job auf dem Drumschemel beim Metal-Konsortium SLIPKNOT innehat und Nils Lofgren ist zurück bei CRAZY HORSE, der Begleitband von NEIL YOUNG. Und Steven Van Zandt schob sogar gleichzeitig seine Schauspiel - und Solokarriere an, ein Wunder dass er überhaupt die Zeit fand.

Dabei scheint die letztjährige Scheibe ihre Spuren hinterlassen zu haben, oder ist es noch ein Überbleibsel. Jedenfalls lässt es Springsteen ruhig angehen, dabei hatte der Fan eher einen kompletten Gegenentwurf erwartet, doch "One Minute You´re Here" kommt auch akustisch daher, seine legendäre Begleitkapelle schweigt noch. Doch auch da fühle ich mich heimisch, denn mein erstes Konzert von ihm hat er ebenfalls alleine mit Klampfe, Harmonika und "This Hard Land" eröffnet. Damals hielt ich das für eine gerade in seiner Bescheidenheit große Geste. An großen Gesten hat es der Karriere noch nie gemangelt und auch werden sie gerne ausgepackt.

Langsam schleicht er sich mit dem Titelsong heran, das gepickte Gitarrenthema macht den großen Helden vor dem geistigen Auge sichtbar, wie er auf der Bühne steht, Hüfte und Knie leicht gebeugt, und seinen Telecaster traktiert. Mit einem so typischen Drumbreak nimmt die Nummer zum Chorus hin Fahrt auf, doch die Euphorie stellt sich erst mit der Bridge ein. Charles Giordano wirft die Orgel an, Roy Bittans Pianotöne perlen darüber und irgendwo darf noch ein Glockenspiel klimpern während der Meister mit Inbrunst intoniert. Vorbei die Zeiten von Zeitgeist-Anbiederungen und anderen Experimenten, so mutig und wichtig die auch gewesen sein mögen.

Das hier ist der E-Street-Sound in Reinkultur, noch besser zelebriert in der zweiten Single "Ghosts", welche explosiver nach vorne rockt. "Burnin´ Train" rollt genauso unaufhaltsam drauf los wie es der Titel vermuten lässt, der Drive erinnert selig an "No Surrender", Springsteen, Lofgren und Van Zandt lassen ihre Sechssaiter aufheulen und spendieren eine Reihe cooler Leads. Am schönsten sind aber die Momente, wenn das Saxophon von "Bigman"-Neffe" Jake Clemons in hellsten Tönen erklingt.
Ja, da darf die Faust in der Luft geballt werden, da findet man sich im großen Stadion wieder, wenn die Legende seine Hand beschwörend über der Menge erhebt. Er mag mittlerweile in verhalteneren Tönen zaubern der alte Schamane, aber er hat kaum etwas von seiner Anziehungskraft verloren. Da bedarf es nicht viel, einfach einer Orgel und ein paar spärlichen Akkorden die darüber gelegt werden wie im weiten "Janey Needs A Shooter", um diese großen Gesten zu erzeugen.

Natürlich wird draußen auf der Straße des Ruhms auch mal das Fuß vom Gas genommen, dann wenn uns BRUCE SPRINGSTEEN etwas zu erzählen hat, wie es sich im schwelgerischen "Song For Orphans" zuträgt. Niemand bringt die Geschichte eindringlicher rüber und vor allem bläst niemand die Harmonika so emotional. Stimmlich pendelt der Mann, wie auf dem gesamten Album zwischen Altersmilde und Altersmüdigkeit, jedoch immer stolz und authentisch. Das ist die hohe Schule des urwüchsigen amerikanischen Rock, die Stories von Freiheit, die nie vergehen dürfen und deren Fährten derzeit junge Musiker wieder auf staubigen Highways folgen.

Man merkt der wohl großartigsten Begleitband aller Zeiten an wie viel Spaß sie an der Sache haben, die Harmonie ist in jedem Ton hörbar. "Letter To You" wurde innerhalb von fünf Tagen komplett live eingespielt, einfach und direkt, ohne Netz und doppelten Boden. Die Probleme der Vorgehensweise zeigen sich aber beim Ergebnis, denn klanglich fällt dieses etwas trocken aus, die Wärme scheint entschwunden zu sein wie so viel menschliche Wärme in unserer Zeit. Bei so einer Produktion will keiner der gesamten Mannschaft den Take versemmeln, darunter leidet das Herzblut, das Feeling, der Wille noch mehr aus den Kompositionen heraus zu holen.

Speziell die Rhythmusfraktion geht im Mastering etwas unter, dass vielleicht zu sehr auf Airplay komprimiert ist, was sich mit der erdigen Aufnahme beißt. Dabei hat man mit Weinberg einen Drummer, der wie kein anderer mit wenigen Schlägen so viel Dynamik hinein bringt. Die dunklen, bluesigen Slides von "Rainmaker" wandeln sich im Refrain zu kraftvoller Opulenz, Tyrell erhebt mit ihrem Bogen die Szenerie und der satte Beat treibt nach vorne. Die noch größere Hymne entwickelt sich aus dem getragenen "If I Was The Priest", das unspektakulär beginnt, doch dann kommen eben jene Arrangements des Late Night-Fernsehstars, simpel und effektiv.

Am Ende ist es das Album welches den ursprünglichen Geist der E-Street-Band so sehr atmet wie schon lange nicht mehr, vielleicht sogar seit "Born In The U.S.A.". Auch wenn die Seuche nicht thematisiert wird, "Letter To You" kommt als die Antwort daher, wie damals "The Rising" auf die Anschläge vom 11. September. Auf dem Cover und den Pressefotos steht der Mann im Schneetreiben, aber er lässt seine Anhänger nicht im Regen stehen.
Ein neues Werk von BRUCE SPRINGSTEEN heißt auch immer die Aussicht auf Livekonzerte, und vielleicht machen jetzt alle Menschen und alle Verantwortlichen ein wenig mehr möglich, damit diese Messen so früh wie möglich wieder gefeiert werden können. Unter all der Melancholie erhebt sich jede Note als ein Funke Hoffnung, mehr kann Musik nicht leisten. Möge der "Brief An Dich" bei jedem Erdenbürger ankommen! (Pfälzer)


Anzahl der Songs: 12
Spielzeit: 58:17 min
Label: Sony Music
Veröffentlichungstermin: 23.10.2020

Bewertung:

Pfaelzer8,0 8 / 10


Jochen8,0 8 / 10

Maik8,0 8 / 10

Pascal8,0 8 / 10

Anna 9,09 / 10

sarahjane 1010 / 10

Ebi 10,010 / 10


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