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ayreon thetheaterequationEigentlich waren seine Werke nie für die Bühne gedacht, da Arjen Lucassen mittlerweile sehr tourmüde geworden ist. Der niederländische Klangtüftler arbeitet lieber zuhause monumentale Rockopern aus, die von Kritikern und Fans hoch geschätzt werden. Doch irgendwann kam ihm die Idee mit "The Human Equation" eines der Werke von AYREON eben genau in dem Rahmen darzubieten, welchen sie eigentlich darstellen, nämlich als große Inszenierung, die auch die Story visuell trägt. So gab es vom 17. - 19. September vier Shows im Nieuve Luxor Theater von Rotterdam bei denen das irdischste Werk aus dem Kanon wirklich im Opernstil auf die Bühne gebracht wurde. Der Zuspruch war enorm, alle Auftritte waren ausverkauft, am 18. musste daher eine Zusatzshow nachmittags angesetzt werden. Zwei Jahre dauerten die Planungen, gerade bei der Liste an Mitmusikern ein logistischer Kraftakt. Das Ergebnis ist nun für alle in Form von "The Theater Equation" als CD und DVD mit "Behind The Scenes"-Material erhältlich.

Wenn Arjen Lucassen ruft, dann folgen sie alle nur sehr gerne, doch dieses Mal musste er seine Akteure zur gleichen Zeit an einem Ort haben. Dennoch gelang es ihm, fast die komplette Besetzung aus internationalen Topsängern auf der Bühne zu versammeln. Lediglich Devon Townsend, Mike Baker und Mikael Akerfeldt konnten nicht mit von der Partie sein und wurden von Anneke van Giersbergen und Mike Mills ersetzt. Den Part von Lucassen als bester Freund des Hauptprotagonisten übernahm Jermain "Wudstik" van der Bogt, während sich der Meister ausschließlich hinter den Kulissen aufhielt und erst nach dem Ende seinen Applaus abholt.

Zu dem Ensemble mit Irene Jansen, Devon Graves, Eric Clayton, Heather Findlay oder Marcela Bovio gesellte sich noch ein eigens zusammen gestellter neunzehnköpfiger Chor, der die Musiker unterstützte. Als Hauptperson der Geschichte war mit niemand geringerem als DREAM THEATER-Frontmann James LaBrie die Originalstimme vom Album mit an Bord. Man musste kein Prophet sein, um zu erahnen, dass es an den Abenden vor allem in gesanglicher Hinsicht einen absoluten Ohrenschmaus geben würde.
Was die Damen und Herren boten, war allergrößtes Kino und wurde perfekt auf Tonträger eingefangen. Ob als Solosänger, in Harmonien mit oder ohne Chor oder in vielen Vokalduellen ließen alle ihre Klasse erkennen und ergänzten sich auch ohne viele Proben auf den Punkt. Die Band indes stand dem in nichts nach und brachte alles sehr detailgetreu wieder. Zwar wurden die Orgelklänge der beiden Keyboarder aus modernen Synthesizern abgerufen, doch gerade die Streich - und Blasinstrumente waren auf der Bühne eingespielt worden. Ganz hinten gab Lucassens langjähriger Begleiter Ed Warby den Rhythmus an den Kesseln vor.

Thematisch behandelt "The Human Equation" quasi die Lebensgeschichte des Protagonisten, der einfach nur unter "Ich" firmiert. Dieser liegt nach einem mysteriösen Unfall im Koma und seine Frau und sein bester Freund wachen an seinem Bett. In zwanzig Songs, die je einen Tag seines Komas darstellen wird erzählt, wie diese Katastrophe in seinem Leben sich seit seiner Kindheit ankündigte. Dabei versuchen die Emotionen in Gestalt von Leid, Angst, Wut, Liebe, Vernunft, Stolz und Leidenschaft Besitz von ihm zu ergreifen.
Das Bühnenbild besteht aus einem riesigen Riser, auf dem die Musiker ganz oben thronen. Davor und darunter gibt es mehrere Treppen und Rampen, auf denen die Sänger umher laufen, die verkörperten Emotionen immer wieder auf das "Ich" einreden. Auf den einzelnen Etagen sind die Szenenbilder wie das Zimmer seiner Kindheit oder sein Büro aufgebaut. Als zentrale Fixpunkte stehen in der Mitte oben das Krankenbett und auf der untersten Ebene ein zerbeulter Mercedes als Symbol für den Unfall, der die Hauptfigur erst zum Nachdenken anregte.

Der Kampf um die Seele des auf der Bühne umher irrenden "Ichs" wird sehr gut in Szene gesetzt, die Gesangsduelle sind großartig, die Gefühlswelten zu spüren. Hinter allem lauert noch ein Geheimnis, welches der Auslöser für den Unfall war, doch es fällt trotz der tollen Inszenierung schwer die Geschichte komplett zu begreifen. Man muss sich schon mit dem Originalwerk auseinander gesetzt haben und die Texte studiert haben, ohne eine einigermaßen Vorbildung erschließen sich einem die Zusammenhänge kaum.
Es ist nicht das erste Mal, dass "The Human Equation" auf die Bühne gebracht wurde, im Saarland gibt es das "Theater der härteren Klangart", welches sich dem Stück ein Jahr zuvor annahm. Meister Lucassen selbst hatte großzügiger Weise dem Verein ausdrücklich die Erlaubnis zu einer Interpretation gegeben. Auch wenn dieses Ensemble nicht die musikalische Strahlkraft dieser Aufführung erreichen konnte, so durchsetzte dieses die Aufführung mit erklärenden Spielszenen, welche sie eigens dafür aus der Story herausschrieben.
In Rotterdam gab es nur den ein oder anderen Reprise von Songs wie "Pain" oder "School" zum eigentlichen Werk, die deutschen Interpreten inszenierten das Ganze eher als Musical. Durch die schauspielerischen Elemente wurde der Plot nachvollziehbarer, während Lucassen mit seiner Aufführung ganz auf die reine Kunst setzt. Das gelang auf der ganzen Linie, denn diese großartige Gesamtkomposition wurde so zu Leben erweckt und wusste in der Livefassung noch mehr Emotionen zu entflammen.

Die herausragenden musikalischen Leistungen wurden auch für dieses Tondokument sehr gut in Szene gesetzt und sehr detailreich abgemischt. So offenbart sich die ganze Wucht dieses phantastischen Epos und wird dank der guten Produktion zum Klangerlebnis. Visuell gelang es immer wieder die Musiker bei ihrer Arbeit gut einzufangen, speziell die Arbeit mit allerlei exotischen Instrumenten ist immer wieder im Bild wie auch der Leadgitarrist der Backgroundformation.
Als etwas störend empfinde ich die oft zu spärliche Bühnenausleuchtung, die gerade in der Totalen so manches verschwinden lässt. Es kann aber auch sein, dass sich diese nur in dem mir zur Verfügung gestelltem Stream so dunkel erscheint. Dies ist aber neben der schweren Verständlichkeit der Handlung der einzige Kritikpunkt. Das Schaffen von AYREON wurde mit diesen Aufführungen gebührend gewürdigt, umso schöner, dass diese für die Nachwelt festgehalten wurden. Ein Beweis dafür, was in der Musik heute alles möglich ist, wenn man seinen Visionen folgt. (Pfälzer)


Bewertung:

Pfaelzer8,5 8,5 / 10


Anzahl der Songs: 28
Spielzeit: 108:38 min (CD)/ 186:53 min(DVD)
Label: Inside Out
Veröffentlichungstermin: 17.06.2016

 

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