Zeal & Ardor - Wake Of A Nation

zealardor wakeofanationNormalerweise schreibe ich keine Reviews über Alben, mit denen wir nicht bemustert werden. Das geht schon alleine aus Zeitgründen oft gar nicht. Aber manchmal mache ich da auch eine Ausnahme. Weil mir ein Album unglaublich gut gefällt. Oder, wie in diesem Fall – weil ein Album bzw. hier eine EP einfach wahnsinnig relevant ist. Eigentlich hatte ich gar nicht vor, über die neue ZEAL & ARDOR überhaupt zu schreiben. Doch diese EP ist so relevant, wie es eine Platte 2020 nur sein kann. So relevant, dass Manuel Gagneux, der Mann hinter der Band, entschieden hat, diese Songs nicht weiter zurückzuhalten und wie ursprünglich geplant im nächsten Jahr auf einem Album zu veröffentlichen, sondern die Stücke jetzt als EP herauszugeben. Denn sie sind jetzt wichtig.

Die Platten von ZEAL & ARDOR fallen ja immer schon durch ein sehr reduziertes, pointiertes Artwork auf. So auch dieses Mal. Das Cover von „Wake Of A Nation“ spricht dabei für sich. Zwei Schlagstöcke, die ein umgedrehtes Kreuz bilden, vor schwarzem Hintergrund. Ein einfaches, klares Design, dass sofort rüberbringt, um was es auf der EP geht: Staatliche, teils systematische Gewalt gegen Schwarze. Nun sind ZEAL & ARDOR ja schon immer eine politische Band, das Thema White Supremacy findet man hier von Anfang an. Zu Beginn der Bandgeschichte hat man sich da eher an der Geschichte orientiert und am Schicksal der schwarzen Sklaven und ihrer Nachkommen in Amerika. Doch nun ist man leider in der Gegenwart angekommen.

„Wake Of A Nation“ ist ganz klar vor dem Hintergrund der Black-Lives-Matter-Bewegung zu sehen. Die aktuellen Proteste wurden ausgelöst durch den Mord an George Floyd. Dass sich die EP auf dieses Ereignis bezieht, kann man unschwer an einem Titel wie „I Can’t Breathe“ erkennen. Doch auch schon Eric Garner, der 2014 von einem Polizisten bei einer Festnahme ermordet wurde, hat verzweifelt diese Worte gesagt. Aber George Floyd war nun der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Unzählige Afroamerikaner sind bereits vor ihm gewaltsam u.a. durch Polizeibeamte getötet worden. Eric Garner, Trayvon Martin, Michael Brown, Tamir Rice, Stephon Clark, Breonna Taylor sind nur einige der bekanntesten Namen der unzähligen Opfer von Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA. Ihnen allen ist diese EP gewidmet und die Einnahmen aus Verkauf und Streaming der Single „I Can’t Breathe“ sollen gespendet werden.

Und wer jetzt denkt, dass das ja ganz weit weg von uns ist, und das dort eben so ist, der sei mal an die NSU-Morde erinnert, die auch erst mal als eine Art „Bandenkriege“ abgetan wurden. So sind ‘se halt, die Ausländer. Murksen sich halt gegenseitig ab. Oder an Oury Jalloh, der sich, obwohl gefesselt, in Polizeigewahrsam selbst angezündet und dadurch getötet haben soll. Oder seien es nur die alltäglichen Unannehmlichkeiten und Gängeleien, denen nichtweiße Menschen in Deutschland und Europa ausgesetzt sind, z.B. bei „verdachtsunabhängigen“ Kontrollen, bei denen sehr oft Leute nur deshalb kontrolliert werden, weil sie nicht verdachtsunabhängig mitteleuropäisch weiß aussehen. Mit der Thematik „Polizeigewalt gegen Schwarze“ haben sich auch andere Künstler schon beschäftigt; der Fotograf Jon Henry hat aktuell zum Beispiel eine sehenswerte Fotoserie (die den Namen „Stranger Fruit“, also den gleichen Namen wie das zweite ZEAL & ARDOR-Album trägt; was kein Zufall ist, da sich beide auf den (fast) gleichnamigen Song, interpretiert von BILLIE HOLIDAY von 1939, beziehen, in dem es schon um fast genau die gleiche Thematik geht, nämlich um die schwarzen Opfer der weißen Lynchjustiz in den Südstaaten) zu dem Thema gemacht, in dem auch schwarze Mütter über ihre Angst sprechen, ihre Söhne z.B. bei ganz normalen Verkehrskontrollen zu verlieren. Wie pervers ist das eigentlich, mit einer solchen Angst leben zu müssen? Und wie pervers ist es, dass Musiker auch mehr als 80 Jahre nach BILLIE HOLIDAY immer noch Lieder über White Supremacy und die Diskriminierung und Tötung schwarzer Mitbürger schreiben müssen?

ZEAL & ARDOR sprechen aber auch andere Ereignisse an, bei denen Schwarze missbraucht wurden. Zum Beispiel im Song „Tuskegee“. In dem Stück wird die Tuskegee-Syphilis-Studie thematisiert. Diese lief von 1932 bis 1972 in Tuskegee, Alabama. Ziel der Studie war es, den Verlauf von Syphilis zu studieren. Dazu wurden mehrere Hundert infizierte Afrikaner sowie eine nichtinfizierte Kontrollgruppe aus Afrika nach Amerika verbracht, um an ihnen zu forschen. Den Menschen, die zum größten Teil nicht einmal lesen konnten, erzählte man, sie hätten „schlechtes Blut“ und man würde ihnen helfen. Tatsächlich aber hat man ihnen nie geholfen, sondern sie an Syphilis sterben lassen, während man dabei zugesehen und „zu Forschungszwecken“ beobachtet hat. Selbst als Medikamente gegen Syphilis gefunden waren, hat man die menschenverachtende Studie weitergeführt, ohne den Betroffenen zu helfen.

„Tuskegee“ ist auch mein persönlicher Lieblingssong auf dem Album, er beschreibt wohl am besten Wut und Schmerz schwarzer Menschen. Nach einem schönen Gitarrenintro growlt hier Manuel Gagneux, unterstützt von harten Riffs, schwarze Wut in die Welt. „Tuskegee“ dürfte einer der härtesten und Black-Metal-lastigsten Songs der Band sein, hat aber trotzdem ein paar unwiderstehliche Melodien zu bieten, die das Songwritingtalent von Gagneux unterstreichen. Sogar einen leichten Grungeanstrich kann man hier in diesem vielseitigen Song finden.

Ganz anders als man das nach dem Opener „Vigil“ erwarten würde, der ruhig, rhythmisch und gospelartig daher kommt und dessen Text hauptsächlich aus möglichen Worten von Opfern und deren Angehörigen besteht. Und auch „At The Seams“ ist ein leiser, sanfter Song mit Blueseinschlag über die Gedanken von Müttern schwarzer Söhne (was auch wieder eine Verbindung zum oben angesprochenen Fotoprojekt von Jon Henry wäre), der aber durchaus auch mal explodieren kann. Wie die Wut von Müttern, die sinnlos ihre Kinder verlieren.

Der Song mit dem Titel, der wohl am meisten Aufmerksamkeit erregt, „I Can’t Breathe“, ist nur etwas länger als gerade mal eine Minute und greift textlich wieder die Thematik von „Vigil“ auf, dieses Mal aber in Form von Dialogen, wie sie bei Festnahmen entstehen könnten. Gleichzeitig schafft man damit eine Atmosphäre des Call & Response, wie es im Gospel oft zu finden ist.

„Trust No One“ geht dann nochmal mehr Richtung Gospel, mit rhythmischem Klatschen und Call & Response, das dann jedoch immer mehr zum Black Metal hin driftet, bis ein Basssolo eine düstere Atmosphäre einleitet, die den Song langsam Richtung Doom drückt. Stampfend und wütend bewegt sich das Stück auf sein Ende zu. Der letzte Song, „Wake Of A Nation“ klingt noch mehr nach Gospel. Beschwörendes rhythmisches Klatschen und Call & Response erzeugen eine ganz besondere Atmosphäre und so bohrt sich der Song tief in den Gehörgang. Der Text ist gleich in drei Sprachen gehalten – dies irae – der Tag des Zorns wird hier besungen. Und damit endet eine EP, die nicht nur thematisch, sondern auch musikalisch extrem intensiv ist, aber auch so gut, dass man am liebsten gar nicht mehr aufhören möchte, sie zu hören. Ich musste mich regelrecht dazu zwingen, auch mal was anderes zu hören.

Und wenn sich nicht bald etwas ändert, dann wird der Tag des Zorns vielleicht wirklich irgendwann kommen. Noch laufen die Proteste ja weitgehend friedlich ab. Dass es ein Land, das sich selbst als „Land Of The Free“ bezeichnet, nicht schafft, diese extreme Diskriminierung und Bedrohung der eigenen Bürger zu beenden, ist ein Armutszeugnis. Dennoch dürften die wenigsten Staaten der Welt in der Lage sein, mit dem Finger auf die USA zu zeigen, da sie selber ein ähnlich gelagertes, wenn auch nicht ganz so extremes Problem mit Diskriminierung haben. Bis sich das nicht ändert, bleibt eigentlich nichts anderes übrig als immer wieder zu wiederholen, bis es auch der letzte kapiert hat: Black Lives Matter! (Anne)

 

Bewertung:

Anne9,5 9,5 / 10

Anzahl der Songs: 6
Spielzeit: 17:02 min
Label: Radicalis
Veröffentlichungstermin: 23.10.2020

Wir benutzen Cookies
Für optimalen Benutzerservice auf dieser Webseite verwenden wir Cookies. Durch die Verwendung unserer Webseite erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden