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Mehrfach-Wertung der Redaktionmarillion_soundsthatcantbemadeIch gehöre ja zu den seltenen Exemplaren der Gattung Mensch, die es geschafft haben, in den Achtzigern mit ProgressiveRock aufzuwachsen. Meine ersten Erfahrungen mit vollständigen Longplayern (immer noch das einzige wahre Medium) waren 1983 MIKE OLDFIELD, SAGA und ASIA. Kurz darauf veröffentlichten GENESIS mit "Mama" und MARILLION mit "Garden Party" erfolgreiche Singles. Vor allem bei Letzteren blieb ich hängen, weil diese neue Band zwei Jahre später mit "Misplaced Childhood" entgegen des damaligen Trends alle Jugendzimmer erobern sollte.
Meiner Leidenschaft blieb ich auch treu, als sich die Wege der Formation und ihres Frontmannes FISH trennten. Vor allem weil "Seasons End", die erste Scheibe mit Steve Hogarth am Gesang für mich immer noch ihr Meisterwerk darstellt. Doch den Erfolg konnten sie nicht halten, allzu offensichtliche Anbiederungen an den Mainstream auf  "Holidays In Eden" oder den Zeitgeist auf "Radiation" kosteten viel Kredit. Dennoch blieb ihnen eine kleine Gruppe Anhänger stets treu ergeben und sichern bis heute den Fortbestand einer nach wie vor innovativen Truppe. In den letzten Jahren öffneten sich die Briten wieder ein wenig, seit dem letzten Album "Happiness Is The Road" spielt man wieder Festivals und tourt mit anderen bekannten Bands wie DEEP PURPLE oder SAGA. Vier Jahre später und zwei Jahre nach dem Akustik-Album "Less Is More" gibt es mit "Sounds That Can´t Be Made" nun wieder neues Futter für die Fans.

 

Die müssen sich zuerst mal gewaltig fragen, ob sie ihre Ohren richtig geputzt haben. Nach kurzem, aus dem Nichts Anschwellen von Soundcollagen mit dezent orientalischem Einschlag bricht „Gaza" so heftig los, wie nie zuvor in der Geschichte der Band. Ruppige Gitarren, Streicher, die klangtechnisch ebenfalls gegen Nahost zeigen, fallen wuchtig über den Hörer her. Die Elektronik pulsiert düster im Hintergrund, grüßt schön vom Neunziger-Remix-Album „Tales From The Engine Room".
Diese moderne Härte zeigt, dass MARILLION nie stillstehen, auch wenn das so niemand erwartet hätte. Aber es passt irgendwo zum Thema, wobei in der Vergangenheit politische Themen eher selten angefasst wurden. Ein wenig Sozialkritik wurde zwar mal in „Fugazi" laut, und auch hier beschreibt man eher den Zustand aus Sicht der Betroffenen. Auch wenn der Song sich über die Lebensumstände von zum Teil schon in der dritten Generation internierten Familien dreht, will Sänger Steve Hogarth nicht werten. Doch in der westlichen Welt mit ihrer pro-israelischen Haltung, allen voran das Sicherheitsrisiko Kanzlerin, wird man schon damit auf Diskurs gehen.

Harter Tobak, der hier serviert wird, und der plötzlich in sich zusammen bricht, auf leisen Synthie-Flächen davon schleicht. Als wollten sie nur kurz schocken, setzen die Neo-Prog-Überväter nun genau auf das, was man von ihnen kennt. Diese unvergleichliche Melodramatik füllt den Raum, mal verhalten hinter einem Basslauf, dann wieder wuchtig, von Keyboard-Schwaden umnebelt. Hogarth übernimmt die Führungsrolle, beherrscht die gesamte Palette an Emotionen, von beschwörend über eruptiv und aufbrausend bis hin zur wimmernden Kopfstimme, die alles fragil, fast unberührbar wirken lässt.

Und dann taucht sie am Ende des eröffnenden Longtracks wieder auf, die Stimme seines Gitarristen Steve Rothery. Die Stimme dessen sechs Saiten, die hier endlich wieder ausgiebig in warmen Soli brillieren darf. Und das ist nicht das einzige Mal auf "Sounds That Can´t Be Made", schon beim folgenden Titelsong hat er auch wieder seine Einsätze. Sein Spiel ist unverkennbar und transportiert so viel Gefühl, dass es immer wieder ein Genuss ist. Klar, gibt es Steven Wilson, Nick Barrett oder Pjotr Grudzinski, aber wenn jemand den Staffelstab von Davod Gilmour weiter trägt, dann Rothery.

So schön das alles für die Anhänger ist, so große Momente, die schon der Opener bietet, doch hier beginnen bereits die Probleme, die ich mit dem Album habe. Die fangen beim Sound an, denn der wirkt streckenweise sehr steril und überproduziert. Viele elektronische Experimente, wie Vocoder-Stimmen und Hall erzeugen manchmal eine fast technoide Atmosphäre. Da fehlt die Wärme, die Produzent Michael Hunter noch auf „Happiness Is The Road" erzeugen konnte.
Von diesem Doppelalbum nimmt man vor allem den Faden von „Essence" auf, mit seinen schwelgerischen Stimmungen. Die psychedelischen Ausflüge von „The Hard Shoulder" bleiben ebenso auf der Strecke wie der alternative Rock und Britpop, mit dem sie auf den letzten Werken immer wieder kokettierten. Für mich persönlich kein Verlust, hier geht man wieder zurück zu den klareren Strukturen von „Brave" oder „Marbles", wobei deren Qualität nicht erreicht wird.

Das liegt neben dem Sound auch an den nicht mehr so verspielten Arrangements, denen die Detailfülle genommen wurde. Hunter reduziert diese auf ein Minimum, und bläht das Ergebnis dann bombastisch auf. Dadurch fallen die Schnitte zwischen den einzelnen, für sich guten Abschnitten einfach zu grob aus, weil die Feinheiten verwischen. Dabei waren MARILLION einmal Meister im Verschmelzen verschiedener Elemente. Man höre nur wie die Motive auf „Misplaced Childhood" ineinander gleiten, das konnten nur PINK FLOYD je besser. Lediglich bei „Montreal" gelingt es die typischen, mitreißenden Spannungsbogen zu erzeugen.
Waren auf dem Vorgänger viele kurze, teils unfertig wirkende Songs, so wurde dieses Mal alles zusammen getragen und gestreckt. Bei „Lucky Man" funktioniert das ganz gut, wo sich dramatische Leads, getragene Strophen und ein rockiger Refrain, in dem im Hintergrund das E-Piano klimpert toll ergänzen. Doch beim abschließenden, süßlichen „The Sky Above The Rain" passiert in der langen Spielzeit zu wenig. Neben dieser Nummer klingen auch noch andere Parts auf „Sounds That Can´t Be Made" wie ein Überbleibsel der straffen „Holidays In Eden"-Marschrichtung.

Man merkt es dem Dreher an, dass er in vielen Sessions über Jahre verteilt aufgenommen wurde. Sicherlich können sich MARILLION den Luxus leisten, und ihren Studio-Aufenthalt den Tourplänen anpassen, doch die Homogenität kommt dabei abhanden. Trotz vieler großartiger Melodien wirkt manches bruchstückhaft, wie von verschiedenen Alben zusammen gepuzzelt. Dass sie das Schreiben toller Songs nicht verlernt haben, sie immer noch beseelt miteinander musizieren, beweisen sie oft auf ihrem jüngsten Werk. Nur sollten MARILLION wieder dazu übergehen ihr feines Gefühlskino ganzheitlich anzulegen, damit es seine volle Wirkung entfalten kann. (Pfälzer)

Bewertung: 7,5 / 10


Anzahl der Songs: 8
Spielzeit: 74:21 min
Label: EAR Music
Veröffentlichungstermin: 14.09.2012

Wertung der Redaktion
David Anne Kevin Maik Jochen Jannick Pascal
8 7 7 7 7 8 7,5
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